Von Martina Herzog
Die Grünen in Deutschland treffen viele Entscheidungen gegen ihr Selbstverständnis und ihre Kientel, behaupten sich aber dennoch in den Umfragen. Wie das?
Der Grüne Karl-Wilhelm Koch erkennt seine Partei nicht so richtig wieder. "Die Alt-Mitglieder, die vehement gegen Atomkraft waren und für Gewaltfreiheit, haben keine Mehrheit mehr." Der 69-Jährige ist nach eigenen Angaben seit den 1990er Jahren Parteimitglied, nun fürchtet er um den eigentlich zum Jahresende beschlossenen Atomausstieg. "Wir sind einfach schon viel zu oft umgefallen."
Koch ist einer der Organisatoren der Basisgruppierung Unabhängige Grüne Linke (UGL) und ehrlich genug einzuräumen, dass er und Gleichgesinnte immer häufiger auf verlorenem Posten kämpfen. Eine UGL-Initiative für eine parteiweite Urabstimmung zu steigenden Rüstungsausgaben werde es schwer haben, die nötige Mindestzahl von 6287 Unterstützern bis Ende August zu erreichen. Laut Koch war man zuletzt bei ungefähr 2500.
Ausgerechnet das, was Koch so stört, dürfte eine der Zutaten für das grüne Erfolgsrezept sein. "Gerade für ihren pragmatischen Stil" unterstützten Neu-Wähler die Grünen, sagt der Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güllner.
Knapp 600 Kilometer entfernt von Kochs Heimatort Mehren im Westen Deutschlands - in der Berliner Parteizentrale - ist man mit sich zufrieden. "Wir sehen, dass die große Mehrheit unserer Mitglieder unseren Kurs in der Regierung mit hoher Geschlossenheit mitträgt", stellt die Politische Bundesgeschäftsführerin Emily Büning fest. "Das schlägt sich auch in der Entwicklung der Mitgliederzahlen nieder, die sich weiterhin konstant auf dem Höchststand befindet." Im Februar gab es gut 125.000 Grüne. Umfassende neue Zahlen liegen laut Partei erst wieder im kommen den Jahr vor.
Ähnlich erfreulich aus Parteisicht fällt der Blick auf die Umfragen aus, wo die Grünen deutlich oberhalb der 20-Prozent-Marke stehen. Je nach Umfrage liegen sie damit vor oder gleichauf mit der Kanzlerpartei SPD und weit vor der FDP, die zwischen 7 und 9 Prozent dümpelt.
Was angesichts der vielen Kompromisse mit der Wirklichkeit, die grüne Politiker gerade eingehen müssen, Wunder nehmen könnte. Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck ist gemeinsam mit Außenministerin Annalena Baerbock ganz vorn dabei, wenn es um Waffenlieferungen an die Ukraine geht. Bei einem Auftritt in Bayreuth wurde Habeck in der vergangenen Woche deshalb als "Kriegstreiber" beschimpft.
Damit weniger knappes Gas für die Stromerzeugung verbraucht wird, gehen wieder mehr klimaschädliche Kohlekraftwerke ans Netz. Und wer weiß, wie die Atomkraftdebatte endet. Die Grünen haben sich immer für einen Ausstieg aus der Atomenergie eingesetzt, und zum Jahresende sollten in Deutschland eigentlich die letzten Meiler vom Netz gehen. Nun wird eine Laufzeitverlängerung diskutiert.
Die grüne Antwort nach innen und außen lautet "Verantwortung". "Wir suhlen uns ja gern im Verantwortungsbewusstsein für das Ganze", merkt einer etwas selbstironisch an. Fraktionsvize Andreas Audretsch, ein linker Grüner, glaubt: "So lange wir plausibel begründen können, warum wir in einer schwierigen politischen Lage so handeln, wie wir es tun, hören uns die Leute auch zu."
Wirtschaftsminister Habeck zieht seit Monaten als Krisenerklärer durch Fernsehsendungen, Außenministerin Baerbock weiß die Weltbühne zu nutzen. Der sozialdemokratische Kanzler Olaf Scholz hingegen brüstet sich gerne mit der eigenen Wortkargheit und lässt Journalisten auch mal mit Ein-Wort-Antworten abblitzen. Die freiheitlich-liberale FDP sucht derweil in vielem die Auseinandersetzung mit den Regierungspartnern, von Corona über den von ihr durchgesetzten Rabatt beim Tanken bis hin zur Atomkraft. Ihre Konkurrenz ist die konservative, oppositionelle CDU unter Friedrich Merz. Sie wird wieder attraktiver für bürgerliche Wähler, auf die auch die Liberalen abzielen.
"Wie häufig, wenn die Grünen besonders gut dastehen, ist das auf Unzufriedenheit mit den anderen Parteien zurückzuführen, vor allem mit der SPD", sagt Forsa-Geschäftsführer Güllner. SPD-Mann Scholz sei bei der Bundestagswahl im September für viele eine "Verzweiflungswahl" gewesen angesichts der damals fehlerträchtigen Top-Wahlkämpfer von CDU und Grünen. "Die FDP ist eine Klientelpartei für Gutverdiener und den Mittelstand, setzt deren Interessen am Bürokratieabbau aber nicht effektiv durch. Es wäre die Rolle der FDP, die Menschen vor der Macht von Großorganisationen wie dem Staat, Gewerkschaften oder der Kirche zu schützen, aber das tut sie nicht", meint Güllner.
Den Grünen schade ihre Kompromissbereitschaft nicht. "Sie wollen vor allem an die Macht", sagt Güllner. Von Dauer müsse der Höhenflug aber nicht sein. "Die hohen Zustimmungswerte können schnell wieder wegbrechen, wenn Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck an Beliebtheit verlieren sollten."
Bei den Grünen hingegen sehen viele in den aktuellen Krisen eine Art historische Bestätigung. "Was wir seit vielen Jahren sagen, bewahrheitet sich derzeit mit unausweichlicher Härte und Klarheit", resümiert Fraktionsvize Audretsch. Die Klimakrise etwa werde angesichts brennender Wälder, Fluten und Dürren greifbar.
Ein anderer Grüner spricht bereits von einer "Volkspartei unter dem Leitbild der Klimakrise". Da mag Güllner nicht mitgehen. Eine Volkspartei, die die unterschiedlichsten Gruppen vereinen könne, seien die Grünen nicht. "Sie bleiben eine Partei für die oberen Bildungs- und Einkommensschichten im Umkreis des öffentlichen Dienstes und von Bildungseinrichtungen. Wenn sie sich für soziale Themen einsetzen, erreicht das die Menschen nicht."
Auch der Basisgrüne Koch sieht die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei. Ob das eine gute Sache sei, bleibe abzuwarten. Kompromissbereitschaft sei nötig in der Politik, aber die Grünen gäben zu viele eigene Positionen auf.
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