Von Wim van Geenen
In der breiten Öffentlichkeit war es zuletzt still geworden um Julian Assange. Lange her schien die Veröffentlichung jener Dokumente, mit denen Assange und seine Mitstreiter ab dem Jahr 2007 systematische Rechtsbrüche von Unternehmen und Regierungen offenlegten und so insbesondere die US-Regierung gegen sich aufbrachten. Doch auch die anschließend gegen ihn erhobenen Vergewaltigungsvorwürfe und die spektakuläre Flucht in die ecuadorianische Botschaft in London liegen mittlerweile acht Jahre zurück. Assange selbst wirkt heute kraftlos, Jahre der Flucht, der medialen Diffamierung und der Isolation haben Spuren im Gesicht einer einst schillernden Persönlichkeit hinterlassen. Dennoch kommt nun wieder Bewegung in seinen Fall: Auch im Hinblick auf die für den 25. Februar angesetzte Anhörung zu einer möglichen Auslieferung Assanges an die USA erschien Ende Januar in einem Schweizer Online-Magazin ein Interview, in dem Nils Melzer, UNO-Sonderberichterstatter für Folter, schwere Vorwürfe erhebt. Die Verfahren gegen Assange widersprächen rechtsstaatlichen Grundsätzen, seine Verfolgung sei eine Form psychischer Folter, so Melzer. Die aktuellen Entwicklungen im Fall Assange zeigen, wie schnell auch in westlichen Demokratien Jäger zu Gejagten und moralisch Handelnde zu Staatsfeinden werden können. Der Spieß wird umgedreht, die friedfertige Maske fällt.
Doch wie kann es sein, dass jene Länder, die sich in Sonntagsreden gerne als Geburtsorte von Demokratie und Menschenrechten feiern, all ihre Ressourcen mobilisieren, um eine einzige Person derart zu ruinieren? Welche Rolle spielt die durchaus streitbare Person Assange selbst?
Die Antwort beginnt mit dem, was Assange „verbrochen“ hat. Die Veröffentlichung von Geheimdokumenten, die schmutzige Wirtschaftsdeals, systematische Folter in Geheimgefängnissen und Kriegsverbrechen westlicher Staaten belegen, kann als ein Akt gesehen werden, der in diesem Ausmaß vorher nicht möglich und in seiner Radikalität kaum denkbar gewesen wäre. Er wäre nicht möglich gewesen, weil erst mit dem Internet ein Medium entstand, das es Aktivisten, investigativen Journalisten und den jeweiligen Informanten, den sogenannten „Whistleblowern“, möglich machte, derartige Mengen brisanter Daten zu erlangen und zu verbreiten, ohne bereits beim Versuch aufzufliegen. Gleichzeitig übersteigt die Art, wie Assange und andere Whistleblower Regierungen mit ihrem Handeln konfrontieren, die Mittel des herkömmlichen Protestrepertoires. Während sich Protest gegen das Handeln staatlicher Akteure vorher in mehr oder weniger vorhersagbaren Bahnen abspielte, praktizieren Assange und andere Whistleblower eine neue Form von Protest, die viel tiefer ins Zentrum der staatlichen Macht zielt. Sie agieren dezentral, sind unberechenbar und in der Anonymität des Internets beinahe unsichtbar. Whistleblower funktionieren anders als Zeitungsredaktionen, die man schließen, oder Demonstrationen, die man auflösen könnte. Sie stellen das System als Ganzes in Frage, sind aber keine Extremisten. Dennoch werden ihre Absichten oft als Landes- oder gar „Hochverrat“ wahrgenommen. Die Frage des Verrats muss allerdings andersrum gestellt werden: Nicht Assange hat ein Land verraten, der ursprüngliche Verrat liegt bei jenen, die zur Entstehung eben jener Dokumente beigetragen haben. Verraten wurde die Wertegrundlage, die der sogenannte Westen trotz ihres mittlerweile offensichtlichen Feigenblattcharakters wie eine Monstranz vor sich herträgt: Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sind dann offensichtlich nicht gegeben, wenn im Internet Folteranleitungen von Geheimdiensten, Videos von willkürlich mordenden Soldaten und Belege für systematische Massenüberwachung auftauchen. Derartige Rechtsbrüche konnten von Wikileaks eindrucksvoll belegt werden. Die Konsequenzen dafür, den Souverän durch die Enthüllung seines Inneren aus der Deckung zu locken, sind jedoch beträchtlich. Nicht nur Assange lebt mittlerweile in einer fundamental bedrohlichen Situation, auch andere Whistleblower sind auf Jahrzehnte inhaftiert oder zum Leben im Exil verdammt.
Es scheint daher, als läge auch im Fundament der westlichen Demokratien ein Gewaltpotential verborgen, das sich mit voller Wucht besonders gegenüber jenen entlädt, die versuchen, es auszugraben und es der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Die aggressiven und übertriebenen Reaktionen der Staaten zeugen davon, wie den Regierungen im rasanten Wandel der globalisierten Welt Maß und Mittel immer mehr verloren gehen. Dies führt dazu, dass sie ihre eigenen Wertegrundlagen ad absurdum führen und infolgedessen große Teile ihrer Legitimität verlieren.
In diesen Zusammenhängen werden Figuren wie Julian Assange ungeheuer wichtig. Auch wenn Assange in der Vergangenheit mit häufig durchaus hinterfragbaren, teils verschwörungstheoretischen Positionen auffiel und es im Rahmen der Veröffentlichungen von Wikileaks hin und wieder zu berechtigter Kritik kam, haben er und die anderen Whistleblower es geschafft, den Staat in eine neue Rolle zu zwingen. Seit Wikileaks ist klar, dass jede Verfehlung irgendwann ans Licht kommen wird und dass ein Unzufriedener genügt, um eine Bombe platzen zu lassen. Whistleblower sind die neuen Korrektive, die staatliche wie private Akteure in die Zange nehmen und so verhindern, dass die Verantwortung für illegitimes Handeln in Hinterzimmern und Geheimdienstbüros versickert. Indem sie eine zivilgesellschaftliche Kontrollfunktion übernehmen, tragen sie zu jener Kontrolle staatlich ausgeübter Macht bei, die bisher von Parlamenten und insbesondere von freien Medien ausgeübt wurde. Dafür verdienen sie es, im demokratischen Interesse umfassend geschützt zu werden. Das Beispiel Assange zeigt, zu was auch liberale Demokratien fähig sind, wenn die demokratische Kontrolle nicht mehr richtig greift. Um derartige Fälle in Zukunft zu verhindern, müssen Menschen wie Assange, Snowden und Manning mindestens den Schutz erhalten, den Journalisten heute genießen. Assange selbst hat es zutreffend formuliert: „Für eine transparente Regierung, gegen transparente Bürger!“
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