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Zeichen setzen gegen den Hass

Deutscher Buchpreis für Kim de l‘Horizon aus der Schweiz

Kim de l‘Horizon
Kim de l‘Horizon rasiert sich aus Solidarität mit den Frauen im Iran die Haare ab. (Foto: dpa)

Frankfurt/Main (dpa/ka) - Mit Schminke, Schmuck und Schnauzbart nimmt Kim de l‘Horizon den Deutschen Buchpreis entgegen. Ein Rock aus Pailletten, ein Top wie aus Rasen und ein durchsichtiges Oberteil vervollständigen das Outfit. Kim de l‘Horizon versteht sich als non-binäre Person, sieht sich weder eindeutig als Mann noch als Frau, beziehungsweise als beides zugleich.

Der Roman „Blutbuch“ wurde am Montagabend in Frankfurt von der Jury zum besten deutschsprachigen Roman des Jahres gekürt. Die Ehrung ist mit 25.000 Euro dotiert. Als der Name im vollbesetzten Kaisersaal genannt wird, springt Kim de l‘Horizon auf, umarmt Freundinnen und Freunde. Auf der Bühne kommt zuerst nur ein „Wow!“. Eine Rede habe man nicht vorbereitet. Dann folgt unter Tränen ein Dank an die Mutter.

Schließlich zückt Kim de l‘Horizon einen Haarschneider und rasiert sich den Kopf - als Zeichen der Solidarität mit den Frauen im Iran. Die Jury habe den Text auch ausgewählt, „um ein Zeichen zu setzen gegen den Hass, für die Liebe, für den Kampf aller Menschen, die wegen ihres Körpers unterdrückt werden“.

Die Jury war nach eigenen Worten „provoziert und begeistert“ von dem Roman. „Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Kim de l‘Horizons Roman „Blutbuch“ nach einer eigenen Sprache“, hieß es in der Begründung. „Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht?“ Die Romanform sei in steter Bewegung, die Sprache entfalte „eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern ließ“.

Kim de l‘Horizon lässt die eigene Biografie bewusst im Vagen: Im Klappentext des bei DuMont erschienenen Romans heißt es: „geboren 2666“, Kim de l‘Horizon studiere Hexerei und Transdisziplinarität. Laut Börsenverein wurde Kim de l‘Horizon 1992 bei Bern geboren, studierte Germanistik, Film- und Theaterwissenschaften in Zürich sowie Literarisches Schreiben in Biel. Dem Roman-Debüt gingen zehn Jahre Schreibarbeit voraus.

Es ist ein überraschender Sieg: ein Buch, an dem nichts Mainstream ist. Das 300 Seiten starke Werk ist ein wilder Ritt durch Themen und Stile. Gedanklicher Ausgangspunkt ist eine Blutbuche. Sie steht im Garten der Großmutter, die im Laufe der Erzählung dement wird. Der Roman ist aber auch ein sensibel beobachtetes Familiendrama: Die unglückliche Mutter verwandelt sich in Belastungsphasen in eine „Eishexe“, die das Kind mit ihrer Kälte zu Tode ängstigt. Der Vater spielt keine Rolle - oder maximal als abschreckendes Beispiel, ein Mann, der „Hmrgrmpf“ sagt, nur eben „nicht mit Buchstaben gesagt. Sondern mit Gliedmaßen“.

Darin verwoben ist die Geschichte der Identitätsfindung der Erzählfigur. Aus dem „flüssigen“ Kind wird zuerst ein schwuler Jugendlicher und dann eine Person, die so wenig definiert ist, dass die Sprache dafür erst erfunden werden muss: „Dieses Schauermärchen von bloss zwei Geschlechtern, (...) die genau das Gegenteil von einander seien, das erzähle ich nicht weiter.“

Kim de l‘Horizon schreibt „jemensch“ und „niemensch“ statt jemand und niemand, „mensch“ statt man, aber den Lesefluss stört das erstaunlich wenig. Eine einheitliche Gestalt hat der Roman ohnehin nicht: mal zart, mal derb, mal theoriebeladen, mal psychologisch, mal popliterarisch. Um es mit Kim de l‘Horizons eigenen Worten zu sagen: ein „naugty text, der einfach nicht staight sein will“, der sich „wegdreht, wegquengelt, wegqueert“.

Der Deutsche Buchpreis wird traditionell einen Tag vor Eröffnung der Frankfurter Buchmesse vergeben. Die Buchmesse findet nach zwei Jahren mit pandemiebedingten Einschränkungen vom 19. bis 23. Oktober wieder ohne größere Auflagen statt, unter den Teilnehmern sind rund 4000 Aussteller aus 95 Ländern.

Kim de l‘Horizon: „Blutbuch“, 336 Seiten, DuMont Verlag, ISBN 978-3-8321-8208-3.

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