Von Pastorin Karin Krug
Zur Zeit wird man immer wieder an das Sprichwort der alten Römer erinnert: „Si tacuisses, philosophus mansisses“: Wenn du geschwiegen hättest, dann hätte man dich weiterhin für einen Philosophen gehalten. Man hätte noch eine Weile eine Illusion aufrecht erhalten können... Es zeigt sich: je mehr geredet wird, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass dummes und falsches Zeug ans Licht kommt. Aber wenn ich es recht bedenke, ist das so schlecht gar nicht. Es ist gut, wenn man weiß, woran man ist. „Der hat nix zum Sagen und weiß nicht wie“, ein vernichtender Satz, den ich vom meinem schwäbischen Schwiegervater habe.
Da wir schon bei Sprichwörtern sind, muss unbedingt auch dieses genannt werden: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Aber zur rechten Zeit reden und zur rechten Zeit schweigen, ist gar nicht so einfach. Und es stimmt auch keineswegs immer. Aus Kindheitstagen ist das wohl jedem von uns als eine ausgesprochen unangenehme Erfahrung in Erinnerung, dass wir etwas zu verschweigen, zu verbergen hatten und doch todunglücklich dabei waren. Oft waren es relativ harmlose Dinge, die unser junges Gewissen beschwerten und die umso belastender wurden, je besser wir sie verschwiegen. Mag sein, dass die Angst vor Strafe im Spiel war. Aber wer sich in Schweigen hüllt, hilft sich damit nicht. Sein Schweigen entlastet ihn nicht von der Geschichte, in die er verstrickt ist. Ganz im Gegenteil: unser Schweigen legt sich wie eine zusätzliche Last auf das Gewissen. Das ist lähmend und vermag die bunte Welt in eine gespenstische Trübe zu verwandeln. Ja, man erlebt sich unbehaust in seinem eigenen Leben und die gewohnte Umgebung mutet plötzlich fremd an. Dieses Schweigen oder Sich-Verschweigen ist keineswegs Gold. Wie wohltuend haben wir es dann erfahren, wenn wir aussprechen konnten, was wir angestellt haben. Später hat man die große Erleichterung in Erinnerung und kann sich gar nicht mehr so richtig an die Bestrafung erinnern, wenn es sie denn gab.
Wie gesagt, Angst ist oft im Spiel wenn es um Reden oder Schweigen geht. Die Angst vor Bloßstellung und Gesichtsverlust ist schier unüberwindbar. Aber tiefer als die Angst vor Bestrafung oder Bloßstellung sitzt die Scham. Das erleben wir immer wieder bei Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt sind. Sie sind in einer Spirale der Gewalttätigkeit gefangen, und finden nur schwer zum Entschluss hindurch, sich zu öffnen und ihre Lage zu offenbaren. Sie schämen sich, obwohl sie es gar nicht sind, die sich schämen müssten. Da ist Schweigen nicht Gold sondern lebensgefährlich, wie die hohe Zahl an Femizid-Fällen (Mord an Frauen aufgrund ihres Geschlechts) besonders in diesen Quarantänezeiten zeigen.
Wenn man eine Tatsache verschweigt, die einen Mitmenschen entlasten würde, wenn einem ein Unrecht bekannt ist, wenn man weiß, dass man etwas richtigstellen müsste, es aber nicht tut, auch dann ist Schweigen keineswegs Gold.
Als Erwachsene erinnern wir uns an die Erfahrungen des Verschweigens und der Erleichterung, wenn man die Sache klären konnte, die wir als Kinder gemacht haben. Aber im Laufe unseres Lebens mag sich manches angesammelt haben, was uns belastet an Schuld, Verfehlungen, Unterlassungen und falschen Entscheidungen. Es mag nach außen hin Gras über so manches gewachsen sein. Aber damit ist es nicht einfach weg. Es gibt in der Heiligen Schrift einen außerordentlichen Psalm der das anspricht: „Denn da ich es wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine“ (Psalm 32). Ich denke, dem kann die Psychologie bestimmt voll und ganz zustimmen. Wer hat schon eine fleckenlose Weste? Wessen Moral ist absolut unangreifbar? Wer hat nicht etwas, von dem er nicht wünscht, dass es entdeckt würde? Und einmal davon abgesehen: Wieviel Worte der Zuneigung bleiben ungesagt, wieviel Bitten um Vergebung unterbleiben bis es zu spät ist. Nein, Schweigen ist nicht immer Gold.
Aber jenseits der mitmenschlichen Seite, gibt es noch eine andere, tiefere. Vor Gott sind wir immer in Geschichten verstrickt. Vor ihm hätten wir wohl Grund, uns mit der Hülle des Schweigens zu umgeben. Damit dies nicht geschieht, erhebt der Psalmist seine Stimme. Er ermuntert jeden, sich mit Gott auszutauschen. Und er verheißt, dass man dabei alles los werden kann, was belastet. Gott entlastet. Wer sich ihm anvertraut, wird nicht bloßgestellt. So fängt der Psalm überhaupt an: Wohl dem, dem die Übertretungen vergeben sind, dem die Sünde bedeckt ist!
Ist das nicht eine sagenhafte Aussicht? Sich nicht mehr von den eigenen Taten und Untaten tyrannisieren zu lassen, sich nicht mehr von den eigenen Leistungen und Fehlleistungen unter Druck setzen lassen zu müssen. Befreit aufatmen zu können.
Man kann sich Gott nicht anvertrauen, ohne dass Freude entsteht.
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