Rezept oder Denkanstoß?
Von Pastorin Karin Krug
Laut einer alten spanischen Weisheit ist dein Leben komplett, wenn du ein Kind zur Welt gebracht, ein Buch geschrieben und einen Baum gepflanzt hast.
Nun, ich habe zwei wunderbare Kinder, und einen Baum - oder mehrere Bäume - habe ich auch schon gepflanzt. Zum Buch habe ich es noch nicht gebracht und ich bin mir nicht sicher, ob es je dazu kommen wird.
Schon Salomo hat - nach dem Buch des Predigers oder Kohelet im Alten Testament - festgestellt: „Es nimmt kein Ende mit dem vielen Bücherschreiben.“ Erstaunlich. Immerhin schrieb er das vor Jahrtausenden, als das Schreibmaterial sehr kostbar und kostspielig war, und es die Flut von Büchern wie heute noch nicht gab. Wahrscheinlich hatte man eine besondere Beziehung zum geschriebenen Wort. Es wurde bedacht, von allen Seiten beleuchtet, mit Kommentaren bereichert und ins Leben eingebaut. Studieren heißt ja auch: sortieren, sichten, die Spreu vom Weizen trennen. Und das mag anstrengend sein. Denn der Weise aus dem Buch des Predigers fährt fort: „... und viel Studieren ermüdet den Leib.“ Man kann verstehen, dass viele Zeitgenossen diese Art von Müdigkeit scheuen und es vorziehen, ihr Leben und Denken nach Rezepten auszurichten, die eindeutig sind und sich oftmals in Schwarz-Weiß-Malerei erschöpfen.
„Ein Buch darf die Dinge nicht offenbaren, ein Buch soll einfach nur helfen, sie zu entdecken.“ So denken die Orientalen.
Bücher sind für mich manchmal kleine Fluchten aus dem Alltag, oder auch ständige Begleiter. Manche Bücher lese ich immer wieder. Das sind die Bücher, die mich zum Nachdenken anregen, die meine Phantasie beflügeln, die mir immer wieder mal einen geistigen Schubs geben: „In diese Richtung kannst du auch mal denken.“ Aus dem gleichen Grund, kann ich mich mit Ratgeber-Büchern nicht so recht anfreunden, obwohl es da gewiss wertvolle gibt. Ich glaube, man könnte sein ganzes Leben mit Ratgeberliteratur organisieren: die Schule, die Partnerwahl, das Essen, die Finanzen, das richtige Aufstellen der Möbel.
Ich glaube, da gefällt mir die orientalische Einstellung besser: Ich möchte selbst entdecken. Ich möchte Bücher lesen, die meinen Horizont erweitern, die mich auf neue Ideen bringen. In Pandemiezeiten haben viele von uns Bücher als Fenster erlebt, die offen sind für die große, weite und bunte Welt, die uns momentan verwehrt ist, aber die wir im Geist bereisen können. Und irgendwann auch wieder im Auto, Bus oder Flugzeug, wohin wir immer mögen. Oder besser: soweit unser Geldbeutel es erlaubt.
Mit meinem Vater sind wir viel in der Welt herumgekommen. Vom Klondike in Alaska, bis in den australischen Busch. Von der sibirischen Tundra bis nach Machu Picchu. Wir waren in der Sahara und am Nil, in Feuerland und in Paris. Und das alles mit dem Atlas und dem Lexikon am Küchentisch. What a wonderful world! So eine herrliche, arme, reiche, bunte und strapazierte Welt!
Ich möchte mein Leben nicht nach Rezepten leben. Deshalb bedeutet mir die Bibel sehr viel. Weil sie nicht mit simplen Lebensweisheiten oder starren Regeln daherkommt. Das macht die Bibel spannend, auch noch nach Tausenden von Jahren. Sie will zwar Gott offenbaren, aber ich muss ihn selbst entdecken. In den Glaubenszeugnissen der Vergangenheit. Es ist dieses Buch mit seinen Verheißungen und seinen tröstenden Worten, die uns in schweren Stunden aufrecht halten. Als Sir Walter Scott im Sterben lag, sagte er zu seinem Schwiegersohn: „Bringe mir das Buch.“ Der Schwiegersohn sagte: „Vater, in der Bibliothek gibt es tausende Bücher. Welches Buch?“ Und Sir Walter Scott sagte: „Mein Sohn, es gibt nur ein Buch. Bringt mir das Buch.“ Und er starb mit der Bibel in seinen Händen.
So, und nun muss ich ein ehrliches Geständnis ablegen. Ich muss meine geheimen Absichten aufdecken, warum ich heute so viel von Büchern geschrieben habe. Weil wir in der Gemeinde in Martínez ein kleines Bücherparadies haben! Da wir einerseits sehr viele Bücher gespendet bekommen und andrerseits den Gemeindesaal noch nicht wieder für unsere Gruppen und Versammlungen benutzen können, stellen wir in einem permanenten Büchertisch viele Bücher in Deutsch, Spanisch und Englisch aus und bieten sie zum Verkauf an. Diese Bücherstube kann man während der ganzen Woche morgens besuchen. Oder sonntags nach dem Gottesdienst. Da gibt es Biographien, Bildbände, Fachliteratur, Romane, Koch-, Bastel und Kinderbücher, Klassiker und Wörterbücher und vieles mehr. Und auch Ratgeberliteratur. Schriftsteller und Autorinnen der unterschiedlichsten Epochen und Stile leisten sich da Gesellschaft und warten auf Besuch. Und auf ein neues Heim.
Fenster, die offen sind für die große, schöne, weite und bunte Welt, die uns momentan noch verwehrt ist, aber die wir im Geist bereisen können.
Ach ja, und ein nettes Schwätzchen ist bestimmt auch drin.
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