Durch die Wand sehen
Von Pastorin Karin Krug
Man muss an manchen Orten vorsichtig sein, mit dem was man sagt, denn die Wände haben Ohren. Geringer Trost ist es, dass der Horcher an der Wand, ja nur seine eigene Schand' hören würde. Da das niemandem angenehm ist, kann es eventuell so nachteilig für den Redner werden, dass er mit dem Rücken zur Wand zu stehen kommt, quasi in einer ausweglosen Situation. Vielleicht mag er dann die Wände hochgehen oder mit dem Kopf durch die Wand. Ob das was bringt, ist zweifelhaft. Wie er sich aus der Lage, in die er sich durch unbedachtes Reden gebracht hat, schließlich befreit, ist ungewiss. Vielleicht ist er ein gewandter Redner, es kann aber auch sein, dass er bei seinem Rechtfertigungsversuch gegen die Wand redet.
Es gibt aber auch Leute, die „durch die Wand sehen“ können. Sie akzeptieren, dass die Wand ihren Blick und gar ihr Leben begrenzt, aber sie halten hartnäckig daran fest, dass jenseits dieser Wand ein schönes, buntes und aufregendes Leben wartet. Dieses „innere Bild“ hat ihnen schon oftmals geholfen, nicht zu verzweifeln. Und ich finde es gut, wenn man diese Bilder mitteilt. Es kann anderen helfen, sich nicht mit den Wänden abzufinden als das Letzte und Definitive. Jenseits der Wände wartet eine schöne, weite Welt. Und wir werden sie wieder sehen und genießen. Vielleicht mit ganz neuen Augen.
Durch die Wand sehen zu können ist eine schöne Definition von Glauben. Und auch von Liebe und Hoffnung. Ich habe diese Geschichte gehört. Der Autor ist mir nicht bekannt und ich bedanke mich bei ihm. Sie geht so:
Zwei Männer, beide schwer krank, lagen in einem gemeinsamen Krankenzimmer. Der eine durfte sich jeden Tag in seinem Bett eine Stunde lang aufsetzen. Sein Bett stand direkt am Fenster. Der andere Mann musste den ganzen Tag liegen. Die Männer plauderten stundenlang, ohne Ende. Sie sprachen über ihre Frauen, ihre Familien, ihre Berufe, was sie während des Militärdienstes gemacht hatten und wo sie in ihren Ferien waren.
Jeden Nachmittag, wenn sich der Mann in dem Bett beim Fenster aufsetzen durfte, verbrachte er seine Zeit indem er dem Zimmerkameraden alle Dinge beschrieb, die er außerhalb des Fensters sehen konnte. Der Mann in dem anderen Bett begann geradezu, für diese Ein-Stunden-Intervalle zu leben, in denen seine Welt erweitert und belebt wurde durch Vorgänge und Farben der Welt da draußen!
Das Fenster überblickte einen Park mit einem reizvollen See. Enten und Schwäne spielten auf dem Wasser und Kinder ließen ihre Modellbote segeln. Junge Verliebte spazierten Arm in Arm zwischen den Blumen aller Farben und eine tolle Silhouette der Stadt war in der Ferne zu sehen. Als der Mann am Fenster all diese Dinge in wunderbaren Einzelheiten schilderte, schloss der Mann auf der anderen Seite des Zimmers seine Augen und stellte sich das malerische Bild vor.
An einem warmen Nachmittag beschrieb der Mann am Fenster eine Parade einer Blaskapelle, die gerade vorbeimarschierte. Obwohl der andere Mann die Kapelle nicht hören konnte, konnte er sie richtiggehend sehen - mit seinem geistigen Auge, da der Mann am Fenster sie mit solch eindrucksvollen Worten beschrieb.
Tage und Wochen vergingen. Eines Morgens, als die Schwester gerade kam, um die beiden Männer zu waschen, fand sie, dass der am Fenster friedlich im Schlaf gestorben war. Sobald es passend erschien, fragte der andere Mann, ob er jetzt in das Bett am Fenster wechseln könnte.
Die Schwester erlaubte das gerne und sobald er bequem schien, ließ sie ihn allein. Langsam stützte er sich mühevoll auf seinen Ellbogen um einen ersten Blick auf die Welt da draußen zu werfen. Er strengte sich an und drehte sich zur Seite um aus dem Fenster neben dem Bett zu sehen. Gegenüber dem Fenster war - eine nackte Wand.
Der Mann rief die Schwester und fragte sie, was seinen Zimmerkameraden dazu bewegt haben könnte, so wunderbare Dinge außerhalb des Fensters zu beschreiben? Die Schwester antwortete, dass der Mann blind war und nicht einmal die Wand gegenüber sehen konnte. Sie sagte: „Vielleicht wollte er Sie aufmuntern.“
Ich meine, er hat sich die Fähigkeit bewahrt, die Dinge zu „sehen“ und zu zählen, die man nicht mit Geld kaufen kann. Er war krank und blind, und doch so reich. Und er hat seinem Zimmernachbarn die schwere Zeit erleichtert. Großartig.
So wollen wir auch durch die Wand sehen, bis sie Löcher bekommt. Schließlich haben wir es mit Gott zu tun, und den haben noch nie Wände ausgebremst.
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