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Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Wort zum Wochenende

Des Bruders Hüter

Von Pastorin Karin Krug

„Die Welt ist schlecht, niemand denkt an mich, nur ich“, sagt der Volksmund. Tatsache ist, dass jeder erst einmal das Zentrum seiner eigenen kleinen Welt ist. Das ist so. Aber manche haben es zum System erhoben, auch wenn sie von Amts wegen berufen sind, sich dem Allgemeinwohl zu widmen. Dessen sind wir Zeugen dieser Tage. Tatsache ist aber auch, dass viele Menschen verloren wären, wenn sie auf die Aufmerksamkeit anderer angewiesen wären. Zu viele Menschen auf dieser Welt sind tatsächlich vollständig auf sich allein gestellt. Niemand denkt an sie. Zu viele Menschen sind tatsächlich benachteiligt, man rechnet nicht mit ihnen, man lässt sie links liegen als quantité négligeable. Sie sind echte Opfer.

Aber dann gibt es noch das andere. Und davon erzählt die uralte Geschichte von Kain und Abel im 4. Kapitel des ersten Buches in der Bibel. Kain, der Ackerbauer, war neidisch auf seinen Bruder, den Viehzüchter, weil Gott „freundlich auf Abel und sein Opfer blickte“, auf Kain und seine Gabe aber nicht. In der Folge kamen ihm böse Gedanken, er hörte nicht auf die Ermahnungen Gottes und erschlug schließlich seinen Bruder. „Weh, was hast du getan?“, sagte der Herr. „Hörst du nicht, wie das Blut deines Bruders von der Erde zu mir schreit?“

Das ist eine schlimme Geschichte. Sie geschieht bis heute in verschiedenen Varianten und aus unterschiedlichen Motivationen. Oftmals fängt es an mit dem Gefühl: Der andere hat es so viel besser als ich. Dem anderen fällt alles einfach in den Schoß, aber ich muss mich abrackern und meine Mühe wird nicht anerkannt. Der Neid und die Gier sind mächtige Triebfedern.

Man nimmt an, dass der Hintergrund dieser Geschichte die uralte Rivalität zwischen Ackerbauern und Viehzüchter ist. Vielleicht ist etwas davon immer noch spürbar. Ich erinnere mich an meine Kindheit, welchen Ärger es schuf, wenn die Rinder vom Nachbarn durch die Zäune brachen (oder weil jemand das Tor offengelassen hatte) und unser Maisfeld zertrampelten. Der Ackerbauer muss sich unentwegt sorgen, den Boden bearbeiten, säen, ernten. Und die bange Frage ist: Wird es genug regnen, oder zu viel und zur Unzeit? Das Unkraut wächst schneller als das Getreide... Und wenn alles geklappt hat, ist da immer noch die Ungewissheit, ob der Preis stimmen wird. Aus seiner Sicht hat es der Viehzüchter unendlich viel einfacher. Der schickt die Rinder auf die Weide und sieht dann einfach zu wie sie wachsen und gedeihen. Und dann kommt das Vieh auf den Markt und bringt einen fetten Gewinn.

Das Gefühl, benachteiligt zu sein, ist stark und hartnäckig. Es macht unzufrieden, es macht blind für den Lebenskampf des anderen, dem scheinbar alles unverdient in den Schoß fällt. Es mag ja im Leben ungerecht zugehen. Nicht immer, bei weitem nicht, stehen die Mühe und der Erfolg der Anstrengungen im rechten Verhältnis.

Wenn man sich in eine Opferrolle hineinsteigert, verliert man das rechte Maß aus dem Blick. Und das wirkt sich - im Kleinen und im Großen - auf das zwischenmenschliche Miteinander aus. Kain muss schließlich den Abel ausschalten. Es muss ja nicht gleich wie in der urmenschlichen Geschichte zum Totschlag kommen. Aber es kann. Es kann durch Rufmord geschehen. Man kann auch gezielt die Opferrolle strategisch einsetzen. Man kann sie sich oder anderen einreden. Keineswegs will ich die echten Opfer bagatellisieren. Von ihnen heißt es bis heute und in alle Ewigkeit, dass „ihr Blut zum Herrn schreit“. Aber man kann auf Menschen manipulierend einwirken, so dass sie schließlich die einzige Deutungsmöglichkeit ihrer Situation darin sehen, dass sie Opfer dessen sind, dem es besser geht.

Demgegenüber erzählt die Heilige Schrift von einem anderen Modell des Zusammenlebens, wo der Bruder des Menschenbruders Hüter ist. Wo man den anderen, die andere nicht ausschalten muss, sondern im Gegenteil „ihm helfen und fördern in allen Leibesnöten“, wie Martin Luther in der Erklärung zum fünften Gebot sagt.

Es ist ein gutes Projekt und Sinn des Lebens, des Bruders Hüter zu sein. Es ist schön, wenn man nicht um sich selber kreisen muss. Das Leben wird sinnvoller, tiefer und weiter. Die Dinge rücken ins rechte Licht. Man kann dann eben auch entdecken, wo man selber einen anderen übervorteilt. Oder einfach ignoriert. Denn auch und vor allem die Gleichgültigkeit tötet. Gott verlangt bestimmt nicht, dass wir Tag und Nacht das Leben unserer Nächsten hüten wie ein Hirte seine Herde - das würde uns sicher überfordern und die anderen belasten. Aber Gott verlangt, dass jeder Mensch seine Augen und sein Herz für die Bedürfnisse seiner Mitmenschen offen hält.

„Einer trage des anderen Last“, sagt der Apostel. Ich meine, wenn wir alle das täten, käme keiner zu kurz und unser Zusammenleben wäre so viel schöner. Für alle.


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