Lektionen aus der Geschichte
Von Pastorin Karin Krug
Sich mit der Geschichte zu befassen, kann sehr tröstlich sein. Wenn wir uns zum Beispiel in die Geschichte des Spätmittelalters vertiefen, kann man eigentlich nur sagen: Wenn die Menschheit das überlebt hat, wird sie alle Widrigkeiten überstehen. Besonders fasziniert mich die Geschichte des 14. Jahrhunderts. Vieles passierte in diesem Jahrhundert. Zum einen kam es gegen das Jahr 1300 zu einer abrupten Abkühlung der Temperatur, verbunden mit erhöhten Niederschlägen und Wachstum der Gletscher. Man nennt das die „kleine Eiszeit“. Der Frühling begann später und der Winter früher, was einen direkten Einfluss auf Saat und Ernte hatte und dementsprechend mit Hungersnöten verbunden war. Als Auslöser des plötzlichen Temperaturabfalls werden Vulkanausbrüche in den Tropen gesehen, deren Asche bis in die Stratosphäre gelangte und von den Höhenwinden um die ganze Erde verteilt wurden, was über viele Jahre hinweg die solare Einstrahlung verminderte.
Es gab aber noch andere Tatsachen. Von 1337 bis 1453 dauerte der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich, da der englische König einen Anspruch auf den französischen Thron geltend machte (die Königshäuser Europas waren ja alle irgendwie verwandt). Natürlich wurde nicht 100 Jahre lang gekämpft. Es gab Waffenstillstände und lange Pausen. In diesen Pausen wurden die Heere aufgelöst, und das brachte über die armen Menschen jener Zeit eine entsetzliche Not, denn die entlassenen Soldaten zogen als räuberische Militäreinheiten, Briganten genannt, durch die Lande, mordeten, vergewaltigten, plünderten und verwüsteten die Felder.
Als sei das nicht schon genug Elend, brach im Jahr 1347 in Europa die Schwarze Pest aus, eine Epidemie, die von Zentralasien aus den größten Teil der bewohnten Erde heimsuchte und dann in schrecklicher Regelmäßigkeit etwa alle 10 Jahre die Menschen heimsuchte. Man rechnet, dass zwischen 40 und 50% der Bevölkerung wegstarb. Die Kirche bot nur schwachen Trost und erklärte das Elend als göttliche Strafe wegen der Sünden der Menschen. Viele Priester brachten sich selbst in Sicherheit und überließen die Menschen ihrem Schicksal. Außerdem war die Kirche als Institution sehr mit sich selbst beschäftigt. Im Jahr 1378 wurde das Abendländische Schisma ausgelöst, das bis 1417 andauerte, das heißt, die Christenheit hatte über 40 Jahre einen Papst und und einen Gegenpapst (einen in Rom und einen in Avignon), eine unerträgliche Härte für die Gläubigen, denn was ein Papst vorschrieb, wurde von dem anderen für nichtig erklärt. Man fragte sich: Welche kirchliche Handlung, welches Sakrament ist dann eigentlich gültig? Welcher Trost in Todesnot sozusagen wirksam?
Was mir in diesen Geschichten auffällt, ist die grenzenlose Grausamkeit mit der Konflikte ausgetragen wurden. Das soziale Verhalten wurde immer rücksichtsloser und gefühlloser und die Menschen gewöhnten sich an physische Leiden, Gewalt und Schmerz.
Einige Historiker vermuten, dass ein wichtiger Grund für die Verrohung im Umgang mit Kindern liege. Kindern wurde nicht die Liebe und Zärtlichkeit zuteil, die wir heute bei ihrer Fürsorge voraussetzen. Auffällig, dieses fehlende Interesse an Kindern. Alle menschlichen Verrichtungen werden dargestellt: in der Schlacht und im Bad, beim Säen und Ernten, beim Beten oder auf der Jagd, beim Tanzen oder Lesen, beim Pflügen oder Schreiben - aber sehr selten zusammen mit Kindern. Vielleicht hat es an der hohen Kindersterblichkeit gelegen (eins oder zwei von drei Kindern starb), dass die Liebesmühen um ein Kind vielleicht wenig lohnend schienen? Vielleicht haben die häufigen Schwangerschaften zu der Interesselosigkeit beigetragen. Kinder wurden geboren und starben, das war der Lauf der Dinge... Das Kind, das überlebte, war mit 7 Jahren erwachsen.
Natürlich darf man das nicht verallgemeinern. Liebe und Zärtlichkeit wird es auch damals gegeben haben, aber es gibt kaum Zeugnisse davon.
Welche psychologischen Auswirkungen das auf den Charakter der Menschen und auf die Geschichte hatte, kann man nur vermuten. Vielleicht erklärt diese emotionale Unterkühltheit einer mittelalterlichen Kindheit die Gefühlslosigkeit des mittelalterlichen Menschen dem Leben und dem Leiden anderer gegenüber. Es mag sein, dass die wenig zärtliche mittelalterliche Kindheit Erwachsene hervorbrachte, die andere Menschen ebensowenig achteten wie sie selbst in den formenden ersten Jahren geachtet worden waren.
Für mich ist das ein ganz wichtiges Thema. Ich denke schon lange Zeit darüber nach, wie sich das Gewissen entwickelt. Ich glaube, um ein Mensch mit Gewissen zu werden, muss dieser zuerst ein emotionales Verhältnis zu anderen erfahren haben. Das Fehlen von Zuneigung hat einen tiefgreifenden Einfluss auf das spätere soziale Verhalten. Intelligenz und Verantwortungsgefühl können sich nicht voll entwickeln. Und man kann sich dann der Frage nicht entziehen: Wie viele „gewissenlose“ Menschen wachsen heute heran, weil sie in den formenden Lebensjahren umhergeschubst, links liegengelassen, lieblos behandelt und misshandelt werden? Ich denke, die Bibel hat mit ihrem Liebesgebot nicht einfach ein Gesetz aufstellen wollen, sondern das Wohlergehen der Menschen insgesamt im Blick gehabt.
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