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Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Wort zum Wochenende

Warum Menschen „sehen“ und trotzdem weitergehen...

Von Pastorin Karin Krug

Kaum eine Geschichte ist so bekannt wie die Beispielerzählung vom „barmherzigen Samariter“ nach Lukas 10: Ein Mann wandert von Jerusalem nach Jericho, wird überfallen und liegt verwundet am Straßenrand. Zwei Männer kommen nacheinander vorbei, ein Priester und ein Levit, beide sehen ihn, gehen aber weiter. Dann erscheint ein dritter Mann, ein Fremder, dem man nichts Gutes zutraute, ein Samaritaner. Der hat Erbarmen mit dem Überfallenen, salbt seine Wunden, verbindet sie, bringt ihn in eine Herberge, pflegt ihn einen Tag lang und gibt dem Herbergsvater sogar noch Geld, damit der das Opfer weiterpflegt. Dann reist er weiter.

So ziemlich jeder beurteilt die beiden ersten Passanten als „scheinheilig“ und „herzlos“. Aber stimmt unser Urteil da auch?

Seit den 60er Jahren wird das Phänomen der geleisteten oder unterlassenen Hilfe immer wieder untersucht. Sehr interessant finde ich die Studien zum sogenannten „Zuschauereffekt“ der Psychologen John M. Darley und Bibb Latané, die das Nichteingreifen der Zeugen eines Notfalls untersuchten. Als Ursachen bezeichneten diese Wissenschaftler verschiedene Faktoren: Die Notwendigkeit der Hilfeleistung kann von den „Zuschauern“ nicht eindeutig eingeschätzt werden; sie sind sich im Unklaren darüber, ob die Situation tatsächlich bedrohlich ist. Andrerseits wird die Situation nicht als Notfall eingeschätzt, wenn eine größere Zahl von Umstehenden „zuschaut“ (die Psychologen nannten das „pluralistische Ignoranz“). Das heißt, die Umstehenden sehen offenbar keinen Notfall, weil niemand sonst bisher eingegriffen hat. Die Wissenschaftler sprachen auch von einer „Verantwortungsdiffusion“, das heißt, bei einer größeren Anzahl von Zuschauern nimmt das Gefühl für Verantwortung ab, denn alle warten darauf, dass jemand anders etwas tut. Dann haben sie auch eine Reaktion ausgemacht, wonach eine um Hilfe gebetene Person sich von dieser Bitte in ihrer Freiheit eingeengt fühlt und deshalb Hilfe verweigert...

Andere Studien haben festgestellt, dass Menschen in dicht bevölkerten Städten derart von Reizen bombardiert werden, dass sie Mühe haben, sich zurechtzufinden. Das Interesse für seine Mitmenschen schränkt den Mensch in diesem Fall ein, nicht aus böser Absicht, sondern zum Selbstschutz gegen Überforderung.

Es zeigte sich auch, dass das Verhalten zwischen Großstädtern und Kleinstädtern unterschiedlich ist. In den Kleinstädten halfen über 50 % der Zeugen und in der Großstadt lediglich 15 %. Das kann aber auch an der Persönlichkeitsbildung liegen, also wie der Mensch aufgewachsen ist. In ländlichen Gegenden wird die Ausbildung einer altruistischen Persönlichkeit eher gefördert weil die Beziehungen familiärer und nicht so anonym sind.

Ein letztes Experiment möchte ich noch erwähnen: 1970 haben die Psychologen John Darley und Daniel Batson mit 47 Theologie-Studenten einen „Samariter-Test“ gemacht. Zunächst unterhielten sie sich mit den Studenten - die eine Hälfte wurde über ihre Berufspläne befragt, mit der anderen Hälfte unterhielten sie sich „zufällig“ über das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Danach sollten sie einen Fragebogen ausfüllen und in ein anderes Büro bringen. Die Studenten wurden in drei Gruppen eingeteilt: Den Ersten sagte man: „Oh, Sie sind schon sehr verspätet! Sie hätten den Fragebogen schon vor fünf Minuten abgeben sollen. Bitte beeilen Sie sich jetzt…“ Den Zweiten sagten sie: „Der Assistent wartet schon auf Sie - bitte, gehen Sie zügig in das Büro dort…“ Den Dritten wurde gesagt: „Wir haben noch Zeit. Aber Sie können ja schon einmal losgehen…“

Auf dem Weg zum besagten Büro lag ein Mann auf dem Flur, verletzt, hustend, schnaubend, die Augen geschlossen. Von allen Studenten hielten nur 40 Prozent an, um sich zu erkundigen, ob der Mann Hilfe benötige. Einige stiegen sogar über ihn hinweg und schimpften, weil er ihnen den Weg versperrte. Der zuvor aufgebaute Zeitdruck hatte enormen Einfluss auf die Hilfsbereitschaft: Von den bereits Verspäteten halfen gerade mal 10 Prozent. Bei den Medium-Eiligen waren es immerhin schon 45 Prozent. Von denen, die nicht im Zeitdruck waren halfen 63 Prozent.

Auch das Gespräch vorher hat einen Einfluss gezeigt. Von denen, die sich über ihre Zukunfts- und Karrierepläne unterhalten hatten, bot nur knapp jeder dritte seine Hilfe an. Von denjenigen, die noch das Samariter-Gleichnis im Kopf hatten, stoppten immerhin schon die Hälfte.

Es ist gewiss einfacher, dem Priester und dem Leviten im Gleichnis Herzlosigkeit oder Scheinheiligkeit vorzuwerfen und fertig. Für mich sind die wissenschaftlichen Studien hilfreich, denn sie passen eher in unsere Realität. Nicht als Rechtfertigung für unterlassene Hilfe oder Gleichgültigkeit, sondern sozusagen als eine Möglichkeit, Wahrnehmung und Sensibilität zu trainieren.

Ah! Das muss ich doch noch erwähnen. 2019 erschien eine Untersuchung auf der Grundlage von 219 Aufnahmen von öffentlichen Kameras, die zeigten, dass in 91 % der beobachteten Fälle Opfern von Gewalt und Aggressivität geholfen wurde. Wahrscheinlich liegt das daran, dass jeder heute ein Handy hat und 911 anrufen kann. Das ist schließlich auch eine große Hilfe. Und die kann jeder leisten.


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