top of page
  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Wohltuend normal

Von Stefan Kuhn

Ich gebe es ungern zu. Ich bin ein Merkel-Fan geworden. Gut, gewählt habe ich sie noch nie, aber ich lebe auch weit weg vom Wahlkreis Vorpommern-Rügen, wo Angela Merkel seit 1990 stets das Direktmandat gewann. Und mit ihrer Partei konnte ich mich programmatisch noch nie so recht anfreunden.

Politisch überzeugt hat mich Merkel auch nicht oder nur wenig. Es war ihr Politikstil, das Nüchterne, Unaufgeregte, die Fähigkeit Kompromisse zu finden, der mich anzog. Angela Merkel konnte Irrtümer zugeben, Entscheidungen zurücknehmen und, was auch einen bleibenden Eindruck hinterließ, war dennoch eine knallharte Machtpolitikerin.

Dass sie 16 Jahre lang an der Macht blieb, war kein Zufall. Innerparteiliche (männliche) Konkurrenten hat sie allesamt stillgelegt. Politische Leichen pflastern ihren Weg: unter anderem Friedrich Merz und Roland Koch, Christian Wulff und Günther Oettinger. Einige wurden in direktem Duell geschlagen, andere in „wichtigere“ Positionen gehievt. Der niedersächsische Ministerpräsident Wulff wurde Bundespräsident, sein baden-württembergischer Amtskollege Oettinger EU-Kommissar.

Mit den politischen Gegnern ging sie zimperlicher um. Sie arbeitete hervorragend mit ihnen zusammen. Das Ergebnis war ähnlich. Bei den Bundestagswahlen, indenen sie für die Union antrat, zogen die SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder, Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Martin Schulz den Kürzeren. In zwölf von 16 Jahren regierte Merkel in einer Koalition mit der SPD, vier Jahre mit der FDP. Alle Regierungsbündnisse waren tödliche Umarmungen für die den jeweiligen Partner. Die SPD schrumpfte von Wahl zu Wahl und verlor den Status einer Volkspartei, obwohl sie in den Merkel-Regierungen viele ihrer Programmpunkte durchsetzen konnte. Die FDP stürzte nach einem Rekordergebnis ins Bodenlose und flog nach vier Jahren mit Merkel aus dem Bundestag.

Sympathiepunkte gewann die Kanzlerin damit zwar nicht, aber immerhin Respekt. Aus Helmut Kohls Mädchen war eine Politikerin geworden, die nicht nur auf internationaler Bühne eine gute Figur machte. Sie beherrschte auch die Regeln der Innenpolitik.

Meine Sympathie gewann sie allerdings erst 2015, als sie diese Regeln missachtete. Als sie während der Flüchtlingskrise die Grenzen öffnen ließ. Das war ein humanitärer Akt, der seinesgleichen sucht. Ich fühlte etwas wie Stolz, dass mein Heimatland eines der wenigen Länder war, die etwas gegen Not und Elend der Flüchtenden taten. In Deutschland zog das Gros der Bevölkerung zunächst mit. Die Welle der Hilfsbereitschaft war enorm. Aber dann gab es Widerstände. Fremdenangst führte dazu, dass rechtspopulistische Parteien Zulauf bekamen. In Merkels Partei mehrten sich die kritischen Stimmen. Dennoch war die Entscheidung der Kanzlerin richtig. Dass sie dafür von Staaten wie Ungarn oder Österreich kritisiert wird, ist ein Treppenwitz der Geschichte. Hätte sie die Grenzen schließen lassen, wäre das Problem in diesen Ländern geblieben.

Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise oder Corona - Merkel war eine Krisenkanzlerin, den wenigen Gestaltungsspielraum hat sie nicht genutzt oder nicht nutzen können. Ob sie die Krisen wirklich bewältigt oder nur beruhigt hat, darüber mag man streiten.

Merkels Kanzlerschaft war wohltuend normal. Schaut man sich die internationalen Führungspersönlichkeiten an, die teilweise während ihrer Amtszeit ihr Unwesen trieben oder noch treiben, ist das ein gewaltiger Pluspunkt. Trump, Erdogan, Orban, Kaczynski oder der britische Premier Johnson, da fällt es nicht schwer, Merkel zur Führerin der westlichen Welt zu erklären. Dass sie das nicht ist, weiß sie wohl selbst, und das ist ein weiterer Pluspunkt.

Ein letzter ist, dass sie den Zeitpunkt ihres Rückzugs selbst bestimmt hat. Sie hat nicht den Fehler ihres Mentors Kohl begangen, nach 16 Jahren erneut anzutreten. Kohl wurde abgewählt, Merkel tritt als beliebteste Politikerin Deutschlands ab.


1 visualización
bottom of page