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  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Widersprüche

Von Pastorin Karin Krug

Eindeutig, klar, einleuchtend und in sich schlüssig sollte das Leben sein, oder? Statt dessen finden wir uns immer wieder in Widersprüche verstrickt. Da hat man sein Leben lang gelernt, dass man bei roten Ampeln anhalten muss, aber manche Ampeln können - vor allem Nachts - zu gefährlichen Fallen werden. Was Leben schützen soll, kann Leben gefährden. Wir empfinden es als ein Widerspruch zu allem, was wir als natürlich ansehen, wenn ein Sohn oder eine Tochter vor den Eltern sterben muss. Kinder müssen irgendwann den Eltern gegenüber (die immer bestimmend und „stark“ waren) eine Elternrolle übernehmen, und das bringt einen emotional erst einmal durcheinander. Jahrelang haben wir gehört, man soll weniger mit dem Auto fahren und mehr öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Jetzt, in Quarantäne, sollte man keinesfalls öffentliche Verkehrsmittel verwenden. Und dass Einsamkeit uns schützt, das widerspricht unserem innersten Wissen, dass sie für unser Wohlergehen nicht gesund ist. Und meine Freunde sind immer ganz irritiert, denn sie wissen, dass ich keine Süßigkeiten mag, aber manchmal eben doch, unbedingt. „Wer kennt sich bei dir aus?“, fragen sie.

Das sind nur ein paar Beispiele. Es ist nicht leicht, Abschied zu nehmen von einer naiven Vorstellung, es sei eine Harmonie herstellbar, in der es keine Widersprüche gibt. Schwarz oder weiß soll es sein. Aber der Mensch ist voller Widersprüche: Er ist ein geselliges Wesen - und braucht immer wieder Einsamkeit. Er will anderen helfen - und ist voller Gier und Egoismus. Er sucht Antwort auf höchste Fragen, er sucht Gott - und beschäftigt sich immer wieder mit Banalitäten. Der Mensch weiß sich fehlbar, strebt aber immer nach Perfektion. In jeder Gemeinschaft treten unweigerlich Widersprüche auf, die sich nicht zugunsten der einen oder anderen Seite lösen lassen: sie braucht Stabilität und Veränderung, Ordnung und Freiheit, Tradition und Erneuerung. Die Reformatoren haben für den Christen festgehalten, dass er sowohl Sünder als auch - gleichzeitig - Gerechter ist. Und in jedem Gesprächskreis ist einer dabei, der darauf hinweist, dass es in der Bibel viele Widersprüche gibt, und damit ist die Bibel für ihn „gestorben“. Unser Professor sagte: „Die Alten waren nicht so dumm.“ Das heißt, schon die biblischen Schriftsteller wussten, dass sich einiges widerspricht, aber sie ließen es so, quasi als Einladung: hier musst du tiefer schürfen. In den Widersprüchen ist oft eine wunderbare Wahrheit versteckt. Andere Gläubigen nivellieren alle Unterschiede damit alles in ein System passt, die heiligen Worte werden wortwörtlich genommen und die Bibel zu einem Rezeptbuch degradiert. Viel Reichtum geht dadurch verloren.

In der Komplexität der Welt gibt es eine einfache, alles umfassende Lösung nicht. Wir müssen lernen, mit Andersartigkeiten, auch mit Gegensätzlichem und mit Widersprüchen zu leben. Sie gehören zu uns, so lange wir leben. Sie halten uns in Bewegung, ja, sie halten uns letztlich am Leben, bis, ja bis in der Liebe Gottes alle Widersprüche versöhnt sein werden. Bis dahin ist das Entweder-Oder nicht geeignet, die Herausforderungen zu meistern. Hilfreicher ist ein Sowohl-Als-auch. "Entweder-Oder" hat sicherlich auf den ersten Blick einen faszinierenden Charme, da es vermeintliche Klarheit und schnelle Erfolge verspricht. Statt die berühmte „Schwarz-Weiß-Malerei“ liebe ich das „Prinzip des Regenbogens", wo alle Farben des Spektrums gleichberechtigt sind. „Schwarz-Weiß-Malerei“ macht blind für die anderen Farben und plädiert immer wertend für nur schwarz, nur weiß, nur grün, nur blau, etc.

Damit ist nicht gemeint, dass wir bei existentiellen Fragen nicht klar Stellung beziehen sollten, wenn wir glaubwürdig sein wollen. Ich glaube an Gott und ich glaube nicht an ein blindes Schicksal oder dass unser Lebensweg in den Sternen steht. Und trotzdem ist dieser Gottglaube auch voller Widersprüche: Zuversicht und Zweifel, Dankbarkeit und Auflehnung, Freude und Traurigkeit stehen oft nebeneinander.

Um Widersprüche besser aushalten zu können, brauchen wir Achtung und Toleranz, Weisheit und eine gehörige Portion Humor. Und Gelassenheit. Das finde ich sehr schön in dem Gebet von Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782) ausgedrückt: “Gib mir die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“.

Das Gute dabei ist: Man kann es lernen.

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