Die Deutschen und ihre Hymen im Laufe der verschiedenen Epochen
Von Marcus Christoph
Wenn man als Deutscher in Argentinien lebt, dann ist man überrascht, wie häufig die argentinische Nationalhymne ertönt. Zu verschiedensten Anlässen. Sei es nach politischen Kundgebungen, Empfängen oder in Funk und Fernsehen. In Deutschland ist diesbezüglich ein deutlich sparsamerer Umgang zu verzeichnen. Am ehesten assoziiert man die Intonierung des „Deutschlandliedes“, das vor 100 Jahres erstmals zur Nationalhymne wurde, mit internationalen Sportveranstaltungen.
Buenos Aires (AT) - Dass nationale Symbole in Deutschland sehr zurückhaltend verwendet werden, hängt natürlich mit dem nationalistischen Exzess während der Jahre des Nationalsozialismus zusammen. Seit Otto von Bismarck 1871 das Deutsche Reich als Nationalstaat formte, hat es verschiedene Hymnen und Fahnen gegeben. All dies spiegelt die gebrochene Geschichte der Deutschen in den vergangenen rund 150 Jahren wider.
Im Kaiserreich gab es aufgrund seiner bundesstaatlichen Struktur formal keine Nationalhymne. Allerdings entwickelte sich das preußische Volkslied „Heil Dir im Siegerkranz“ zur Kaiserhymne, die zu patriotischen Anlässen wie dem Sedantag (2. September) oder dem Reichsgründungstag (18. Januar) gespielt wurde. Der Text war ursprünglich 1790 von Heinrich Harrie für den dänischen König Christian VII. verfasst worden. Balthasar Gerhard Schumacher dichtete ihn zwei Jahre später auf den preußischen König Friedrich Wilhelm II. um. Als Melodie diente die englische Königshymne „God save the King“.
Ein weiteres patriotisches Lied, das während des Kaiserreichs als inoffizielle Nationalhymne fungierte, war „Die Wacht am Rhein“. Dieses verfasste Max Schneckenburger 1840 während der „Rheinkrise“, als Frankreich sich anschickte, den Rhein als natürliche Grenze Frankreichs zu etablieren. Die deutsche Nationalbewegung erhielt angesichts dieser Herausforderung massenhaften Zustrom.
In diese Zeit fällt auch die Entstehung des Deutschlandlieds, auch Lied der Deutschen genannt, das der liberale deutsche Hochschullehrer und Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben am 26. August 1841 auf der damals englischen Insel Helgoland dichtete. Es war vom Verfasser zur Melodie der alten österreichischen Kaiserhymne vorgesehen, welche aus der Feder von Joseph Haydn stammte.
Der Text bestand aus drei Strophen, deren erste mit den heute berüchtigten Worten „Deutschland, Deutschland über alles“ beginnt. In einer Epoche, als Deutschland noch aus einem Flickenteppich von undemokratisch verfassten Teilstaaten bestand, formulierte Fallersleben auch seine Wunschvorstellung von dem, wohin ein ideales Deutschland sich erstrecken sollte: Von der Maas bis an die Memel - von der Etsch bis an den Belt. Übertragen auf die Gegenwart wäre dies also: Von Belgien bis Litauen und von Norditalien bis nach Dänemark. In der zweiten Strophe werden deutsche Frauen und deutscher Wein besungen. Heute wird nur der dritte Teil des Liedes verwendet, in dem es um Einigkeit und Recht und Freiheit geht. Diese Ziele haben weiterhin Gültigkeit.
War Hoffmann von Fallerslebens Lied zunächst nur eines von mehreren aus der deutschen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, erlangte es während des Ersten Weltkriegs größere Bedeutung - wenn auch in einem nach heutigem Verständnis eher makaberen Zusammenhang.
Am 11. November 1914 stimmten junge deutsche Soldaten in der Nähe des belgischen Ortes Langemarck spontan das Deutschlandlied an, als sie gegen feindliche Stellungen vorrückten. Nach einem propagandistisch gefärbten Bericht der Obersten Heeresleitung (OHL) verbreitete sich die Kunde von dem Geschehen rasch in der Heimat. Der „Langemarck-Mythos“ vom Opfergang junger patriotischer Soldaten war geboren.
Nach dem Krieg entschied der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert, das Deutschlandlied mit allen drei Strophen zur Nationalhymne zu machen. Anlässlich des Verfassungstags am 11. August 1922 formulierte er: „Einigkeit und Recht und Freiheit! Dieser Dreiklang aus dem Liede des Dichters gab in Zeiten innerer Zersplitterung und Unterdrückung der Sehnsucht aller Deutschen Ausdruck; er soll auch jetzt unseren harten Weg zu einer besseren Zukunft begleiten. Sein Lied, gesungen gegen Zwietracht und Willkür, soll nicht Missbrauch finden im Parteikampf, es soll nicht der Kampfgesang derer werden, gegen die es gerichtet war; es soll auch nicht dienen als Ausdruck nationalistischer Überhebung. Aber so, wie einst der Dichter, so lieben wir heute ‚Deutschland über alles‘. In Erfüllung seiner Sehnsucht soll unter den schwarz-rot-goldenen Fahnen der Sang von Einigkeit und Recht und Freiheit der festliche Ausdruck unserer vaterländischen Gefühle sein.“
Vorausgegangen war anderthalb Monate zuvor die Ermordung von Außenminister Walther Rathenau durch Rechtsradikale. Die junge Weimarer Republik suchte angesichts solcher Bedrohungen nach verbindenden Symbolen wie einer Hymne, um den Zusammenhalt der Bürger zu fördern. Leider mit mäßigem Erfolg.
Als 1933 die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen und die Weimarer Republik zerschlugen, hielten sie am Deutschlandlied als Hymne fest. Schließlich ließ über den Langemarck-Mythos und den Text der ersten Strophe ein Bezug zu nationalistischer Aufopferung und Überhöhung herstellen. Die zweite und dritte Strophe wurden bei offiziellen Anlässen nicht mehr gespielt.
An ihre Stelle rückte das „Horst-Wessel-Lied“, ein nationalsozialistisches Kampflied, das auf den 1930 getöteten SA-Mann gleichen Namens zurückgeht. Der aus Bielefeld stammende Pastorensohn und glühende Nazi Wessel hatte den Text in den späten 20er Jahren verfasst. Die Herkunft der Melodie ist nicht zweifelsfrei geklärt. Sie fand sich bereits in Seemanns- und Soldatenliedern. Nachdem Wessel 1930 von dem KPD-Mitglieder Albrecht Höhler erschossen wurde, stilisierte NS-Chefpropagandist Joseph Goebbels den Getöteten zum „Märtyrer der Bewegung“ und sein Lied („Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“) entwickelte sich zur Parteihymne der Nazis.
Im Dritten Reich folgte das Horst-Wessel-Lied bei Partei- und Staatsfeiern auf die erste Strophe des Deutschlandliedes. Die erste und vierte Strophe des Kampfliedes mussten mit erhobenem rechten Arm gesungen werden. Wer sich nicht daran hielt, musste mit staatlichen Sanktionen rechnen. Heute ist es andersherum: Sowohl in Deutschland wie auch in Österreich sind Text und Melodie des Horst-Wessel-Liedes verboten.
Der musikalische Zusammenhang zwischen Deutschlandlied und NS-Kampflied blieb manchen Zeitgenossen noch lange nach dem Ende der Hitler-Diktatur in Erinnerung. Der Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Ralph Giordano begründete noch 1994 seine Probleme beim Hören des Deutschlandliedes: „…weil ich, unweigerlich und immer noch, nach dem letzten Ton der Nationalhymne das sich seinerzeit unter Hitler notorisch daran anschließende Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen des SA-Barden Horst Wessel fest im Ohr habe.“
Dass sich das Deutschlandlied nach dem Krieg erneut als Hymne etablieren sollte, war zunächst gar nicht ausgemacht. Die Alliierten verboten das diskreditierte Lied. Auch viele Bürger - unter ihnen der erste Bundespräsident Theodor Heuss konnten sich eine Wiedereinführung nicht vorstellen.
Anders der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU). Ihm kam zweierlei zugute: Zum einen enthielt das Grundgesetz von 1949 - wie zuvor auch die Weimarer Verfassung - keinerlei Festlegung zur Hymne. Zum anderen scheiterte Heuss mit einem von ihm selbst in Auftrag gegebenen alternativen Stück kläglich. Er ließ die „Hymne an Deutschland“ erstmals nach seiner Neujahrsansprache am Silvestertag 1950 spielen. Statt Zuspruch erntete er aber Spott. Das Stück, das von da an alle Radiosender zum Sendeschluss ausstrahlten, wurde als „Theos kleine Nachtmusik“ oder „Theos Nachtlied“ verrissen.
Schließlich behielt Adenauer die Oberhand. In einem Briefwechsel legten er und Heuss fest, dass das Deutschlandlied die Nationalhymne der Bundesrepublik sein solle. Zu offiziellen Anlässen sei die dritte Strophe („Einigkeit und Recht und Freiheit“) zu singen. „Ich habe den Traditionalismus und sein Beharrungsbedürfnis unterschätzt“, räumte Heuss ein. An die dritte Strophe sich zu gewöhnen, bedurfte indes einer gewissen Gewöhnungszeit. Als die westdeutsche Fußball-Nationalmannschaft 1954 völlig überraschend Weltmeister wurde, stimmten die Fans im Berner Wankdorfstadion noch spontan die erste Strophe an.
In der DDR ging man einen anderen Weg - der allerdings auch nicht ohne Kuriositäten auskam. Um den Neuanfang im Zeichen des Antifaschismus auch musikalisch deutlich zu machen, entschieden sich die Machthaber zur Schaffung einer ganz neuen Hymne: „Auferstanden aus Ruinen“. Die Melodie dafür schuf der österreichische Komponist Hanns Eisler. Der Text stammte aus der Feder des stalinistischen Dichters Johannes R. Becher. Gesungen wurde das Lied aber nur in den ersten beiden Jahrzehnten des Bestehens des „Arbeiter- und Bauernstaates“. Da in einer Passage „Deutschland einig Vaterland“ besungen wurde, erklang die Hymne ab Anfang der 70er Jahre nur noch instrumental. Der Wiedervereinigungsgedanke passte nicht mehr zum neuen Ziel der DDR, die sich in der Ära Honecker als eigene sozialistische Nation zu definieren versuchte.
Ein Comeback erlebte die Formulierung „Deutschland einig Vaterland“ bei den Demonstrationen nach dem Fall der Berliner Mauer, als die Ostdeutschen zusehends die Vereinigung mit dem Westen forderten.
Nach der Wiedervereinigung 1990 stellte sich die Hymnenfrage erneut. Bürgerinitiativen hatten die Idee, Bertolt Brechts Gedicht „Anmut sparet nicht noch Mühe“ (Kinderhymne), wofür es eine Eisler-Vertonung gab, zur gesamtdeutsche Hymne zu machen. Der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière regte an, die dritte Strophe des Deutschlandlieds mit „Auferstanden aus Ruinen“ zu kombinieren. Erfolg war den Vorschlägen nicht beschieden.
Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundespräsident Richard von Weizsäcker votierten für die Beibehaltung des Deutschlandlieds. Letzterer machte in einem Briefwechsel mit Kohl im August 1991 zudem deutlich, dass ausschließlich die dritte Strophe die offiziellen Nationalhymne sei.
„Die 3. Strophe des Hoffmann-Haydn‘schen Liedes hat sich als Symbol bewährt“, so von Weizsäcker. Sie werde im In- und Ausland gespielt, gesungen und geachtet. Und: „Sie bringt die Werte verbindlich zum Ausdruck, denen wir uns als Deutsche, als Europäer und als Teil der Völkergemeinschaft verpflichtet fühlen.“
Kohl war einverstanden: „Der Wille der Deutschen zur Einheit in freier Selbstbestimmung ist die zentrale Aussage der 3. Strophe des Deutschlandlieds. Deshalb stimme ich Ihnen namens der Bundesregierung zu, dass sie Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland ist.“
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