Der erste Alemann in Argentinien
Von Juan Alemann
Buenos Aires (AT) - Johann Allemann, mein Urgroßvater, hatte in Bern eine Zeitung, das Berner Tagblatt (ohne e), in der er auch aktiv als Redakteur tätig war. Sein Vater war Lehrer in Jegensdorf, auch im Kanton Bern, gewesen, und die Familie hatte ihren Heimatsitz in Farnern, im Juragebiet. Allemann war auch sehr aktiv in der Politik, und ebenfalls Vorsitzender eines Auswandererverbandes. Damals war die Schweiz ein Auswanderungsland, weil es keine ausreichenden Beschäftigungsmöglichkeiten gab. Tourismus, Finanzen und Industrie waren kaum entwickelt. Deshalb wurden auch Schweizer als Söldner von anderen Staaten angeheuert. Der Verband befasste sich mit Sammlung und Beurteilung von Information über die Länder, die für Auswanderer in Frage kamen.
Der argentinische Präsident Domingo Faustino Sarmiento (1862-1868) wollte aus Argentinien ein Land mit europäischer Kultur machen. In diesem Sinn bemühte er sich um Einwanderung aus Europa, wobei er bemerkt hatte, dass die Europäer, auch die Schweizer, nach Nordamerika auswanderten, also in die Vereinigten Staaten und in geringerem Umfang nach Kanada. Er schickte Johann Alemann zwei Schiffspassagen nach Buenos Aires, um ihn oder sonst jemand vom Verein zu bewegen, nach Argentinien zu kommen und dann auch in der Schweiz über das Land zu berichten.
Zunächst geschah nichts. Johann Allemann muss wohl sehr erstaunt über diese Einladung gewesen sein, um sich in ein Land zu begeben, das damals in der Schweiz wenig bekannt war, und so ungefähr in die Kategorie des wilden Westens der USA eingestuft wurde. Doch einige Jahre später ging es dem Berner Tagblatt finanziell immer schlechter, bis es zum Konkurs kam. Daraufhin besann sich Allemann auf die Passagen nach Argentinien, und beschloss, die Reise aufzunehmen. Er erhielt dabei auch die finanzielle Unterstützung seines Schwiegervaters Hans Ott, der in Worb, nicht weit von Bern entfernt, eine Fabrik für Molkereigeräte betrieb. Allemann reíste mit seinem ältesten Sohn Moritz, und ließ Frau und die anderen Söhne zurück. Er hatte insgesamt sechs. Erst einige Jahre später konnte er seine Gattin und die anderen fünf Söhne (darunter mein Großvater Theodor) nach Argentinien kommen lassen.
1874 kam Johann Allemann in Argentinien an. Er wurde nicht gerade freundlich empfangen: Es war Karneval und damals amüsierten sich viele Leute, indem sie vom Dach ihres Hauses Wasser auf die vorbeigehenden Menschen schütteten. Deshalb spazierten die lokalen Einwohner an diesen Tagen mitten auf der Straße. Das wusste Johann Alemann jedoch nicht, so dass er mit einer kalten Dusche empfangen wurde.
Allemann überlegte sich dann, wie es weitergehen sollte. Er erfuhr, dass in es der Provinz Santa Fe Schweizer Kolonien gab und begab sich dorthin, aber nicht in die südlichen Siedlungen (vornehmlich in Esperanza, wo sich schon Schweizer wie Reutemann niedergelassen hatten), sondern in die nördlichste von allen¸in der Nähe der Stadt Reconquista. Dort hatte der Schweizer Johann Liechti (der aus der französischen Schweiz kam) ein Dorf gegründet, das er Berna taufte, das heute noch besteht, mit einer Statue von Liechti auf dem Hauptplatz. Liechti hatte eine größere Landfläche erhalten, die er dann aufteilte und verkaufte, wobei er seinen Unterhalt mit einem Geschäft für allerlei Waren erhielt (hier genannt “Almacén de ramos generales”). Eine seiner Töchter, Berta, heiratete später Theodor Allemann, meinen Großvater. Johann Allemann gab dort eine Zeitschrift heraus, “Der Landbote”. Doch bald merkte er, dass das nicht ging. Er gab auf.
Zurück nach Buenos Aires, gab er ab 1878 die Wochenzeitung “Argentinisches Wochenblatt” heraus. Damals strich er bei seinem Nachnamen das zweite L, weil der Name in Argentinien dabei anders ausgesprochen wurde, auf deutsch etwa wie Aschemann. Die Namensänderung erfolgte formell, mit einem Schreiben an den Heimatort Farnern, wo dies registriert wurde. Johann Allemann wurde zu Juan Alemann.
In Buenos Aires kam damals die Wahlkampagne für die Präsidentenwahl auf, da 1980 das Mandat von Nicolás Avellaneda ablief, und ein neuer Präsident antreten sollte. Die Anwärter für das hohe Amt waren Carlos Tejedor und Julio Argentino Roca. Der erste vertrat vorwiegend die Gegend von Buenos Aires, Roca, der in Tucumán geboren wurde, hingegen das Landesinnere. Roca, der Berufsmilitär und General war, hatte kurz vorher den Feldzug nach Patagonien vollzogen, bei dem Indianer vertrieben wurden, die das Land verunsicherten und die Ausweitung der Landwirtschaft verhinderten. Danach konnte die Landwirtschaft in weiten Gegenden des Landes ohne Gefahr eines Überfalls durch Indianer stark ausgebaut werden. Auch wurde viel Land verteilt, an erster Stelle an diejenigen, die den Feldzug finanziert oder sich an ihm beteiligt hatten. Roca selber erhielt einen großen Besitz in Guaminí. Roca galt als Held, und da er auch ein großes politisches Talent auswies, war er der Favorit bei den Wahlen, die er dann bequem gewann.
Johann Alemann, der stets politisch interessiert war, setzte sich im Argentinischen Wochenblatt für Roca ein, was eigentlich für jemand, der gerade aus dem Landesinneren kam, logisch war. Doch im Grunde hatte er richtig entschieden: Roca war ein Präsident, der die Modernisierung begriffen hatte und in diesem Sinn sehr aktiv war. Unter seiner Regierung und der von Miguel Juarez Celman (1886-1890), seinem Schwager (familiäre Nachfolgen gab es schon damals!), wurden jährlich über tausend Kilometer Eisenbahnschienen gelegt, der Hafen von Buenos Aires gebaut, eine moderne Gesetzgebung eingeführt und das Land grundsätzlich verändert. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sprunghaft. Es gab damals keine Berechnung, wobei auch der Begriff des BIP erst Jahrzehnte später aufkam, aber man kann an Hand einzelner Daten schätzen, dass sich das BIP zwischen 1880 und 1890 gut verdreifacht hat, wobei sich das Land auch qualitativ grundsätzlich änderte und zunehmend europäische Züge annahm.
Gleichzeitig gab es damals einen großen Fortschritt bei der öffentlichen Erziehung, was vorwiegend Sarmiento zu verdanken ist, der unter Roca Erziehungsminister war. Der Erfolg bei der Alphabetisierung war sehr groß, so dass Argentinien um die Jahrhundertwende weniger Analphabeten hatte, als Süditalien und Spanien. Auch das hat zum wirtschaftlichen Fortschritt beigetragen.
Gleichzeitig setzte damals eine große Einwanderung ein, und zwar nicht nur aus Spanien und Italien. Es kamen auch viele Deutsche und Schweizer. Und das veranlasste Johann Alemann im April 1989 auf eine Tageszeitung überzugehen. Das Argentinische Tageblatt erschien bis September 1981 täglich und von da an wieder wöchentlich, wie in der ersten Periode. Doch kurz nach dem Übergang auf eine Tageszeitung, der sehr gewagt war und einen viel höheren Einsatz an Arbeit und Kapital darstellte, geriet Argentinien in eine Krise, die eine Folge von Überinvestitionen und Finanzspekulationen, aber auch internationaler Umstände war. Periodische Krisen haben dann die Zeitung bis heute begleitet.
Johann Alemann war ein aufmerksamer Beobachter. Er schrieb von jung an während seines ganzen Lebens ein Tagebuch, in der er auch die Umstände in Argentinien beschreibt. Über das Argentinien der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts schrieb er auch eine längere Abhandlung, die in der Schweiz veröffentlicht wurde, und eventuell auch zur Auswanderung nach Argentinien veranlasste. Was Argentinien damals für Schweizer anziehend machte, war u.a. der leichte Zugang zum Bodenbesitz, da der landwirtschaftliche Boden sehr billig war. Ebenfalls fiel ihm auf, wie billig das Rindfleisch und Nahrungsmittel im Allgemeinen waren.
Nebenbei bemerkt: Nachkommen von Schweizern spielten in der argentinischen Politik eine bedeutende Rolle. Die peronistische Präsidentschaftsformel bei den Wahlen von 1983 lautete Italo Luder-Deolindo Felipe Bittel. Der erste war schon Senator gewesen, und der zweite Gouverneur der Provinz Chaco. Beide waren von Schweizer Abstammung, ebenso wie Carlos Alberto Reutemann, der später Gouverneur von Santa Fe wurde und es fast zum Präsidenten gebracht hätte. Denn Präsident Eduardo Duhalde bot ihm 2003 an, ihn als Kandidat aufzustellen, was er jedoch ablehnte. Und dann stellte Duhalde Néstor Kirchner auf, der auch einen Schweizer Vorfahren hatte.
Wenn man über all dies jetzt berichtet, entgeht einem der Umstand, dass Johann Alemann ein sehr schwieriges Leben hatte und hart kämpfen musste, um das zu erreichen, war er schließlich schuf. Als er nach Argentinien kam, hatte das Land keine zwei Millionen Einwohner, die zum allergrößten Teil in sehr einfachen Verhältnissen lebten. Um Gesundheitsbetreuung und Erziehung war es schlecht bestellt und noch mehr um persönliche Sicherheit. Der Unterschied zu den Verhältnissen der Schweiz war enorm. Aber Johann Alemann erkannte, dass es hier viel mehr Möglichkeiten für einen wirtschaftlichen Aufstieg gab als in der alten Heimat. Aber geschenkt war eben nichts.
Comments