Fortschritte im Bereich Cherson
Kiew/Moskau/London (dpa) - Die Ukraine macht nach eigenen Angaben und nach Einschätzung eines westlichen Geheimdienstes Fortschritte bei ihren Bemühungen um die Rückeroberung von Teilen der Südukraine. Im Gebiet Cherson sei es dem ukrainischen Militär dank vom Westen gelieferter Artilleriegeschütze gelungen, mindestens drei Brücken über den Dnipro zu beschädigen. Das erklärte das britische Verteidigungsministerium unter Berufung auf Geheimdienstinformationen. Das erschwere Moskau die Versorgung der besetzten Gebiete und mache die russische 49. Armee, die am Westufer des Dnipro stationiert sei, äußerst verwundbar.
Auch die Stadt Cherson als politisch bedeutendste Stadt in der Region unter russischer Kontrolle sei vom Rest der besetzten Gebiete nun so gut wie abgeschnitten, hieß es weiter. "Ihr Verlust würde die russischen Versuche, die Besatzung als Erfolg darzustellen, ernsthaft untergraben", betonte das britische Verteidigungsministerium.
Der ukrainische Generalstab teilte gestern bei Facebook mit, im Gebiet Cherson gebe es aktuell Positionskämpfe, und russische Truppen seien zu Gegenangriffen an der Grenze zum Gebiet Dnipropetrowsk übergegangen. Kiew nährt seit Wochen Hoffnungen auf eine baldige Rückeroberung von Teilen der Südukraine. Der gestrige Donnerstag war der 155. Tag seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.
Bereits am Mittwoch war aus westlichen Sicherheitskreisen verlautet, die Ukraine mache bei ihrer Gegenoffensive im Gebiet Cherson Fortschritte. Angesichts der zerstörten oder beschädigten Brücken, verliere Moskau wichtige Nachschubrouten. Auf russischer Seite gebe es ernsthafte Probleme bei der Versorgung und der Moral der Streitkräfte. "Unserer Ansicht nach ist eine operative Pause unausweichlich", sagte ein hochrangiger westlicher Beamter.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in einer Videoansprache mit Blick auf die von ukrainischen Streitkräften bombardierte Brücke über dem Fluss Dnipro im Gebiet Cherson, dass nach der Rückeroberung alles wieder aufgebaut werde. "Wir werden unser ganzes Land mit militärischen, diplomatischen und allen anderen zugänglichen Instrumenten befreien." Die Ukraine hat Selenskyj zufolge bisher die Kontrolle über rund 20 Prozent ihres Staatsgebietes verloren. Er forderte vom Westen mehr schwere Waffen, um russische Angriffe zu stoppen und besetzte Gebiete zu befreien.
Nach Schätzungen aus den USA gehen die Opferzahlen auf russischer Seite längst in die Zehntausende. "Wir wurden darüber informiert, dass mehr als 75.000 Russen entweder getötet oder verletzt wurden, was enorm ist", zitierte der Sender CNN Elissa Slotkin, eine demokratische Abgeordnete aus dem Repräsentantenhaus, die zuvor an einem geheimen Briefing der US-Regierung teilgenommen hatte. Der Kreml in Moskau wies die in den USA genannten Zahlen als "Fake" zurück. Dies seien auch keine Angaben der US-Regierung, sondern lediglich Medienberichte, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow.
Aktuelle Angaben der offiziellen Stellen in Russland zu Totenzahlen gibt es nicht. Zuletzt wurde die Zahl von 1351 Toten genannt. Der US-Auslandsgeheimdienst CIA hatte zuletzt geschätzt, dass auf russischer Seite bereits 15.000 Menschen ums Leben gekommen seien. In der Ukraine gelten die eigenen Verluste als Staatsgeheimnis. Präsident Selenskyj zeichnete allerdings bis Mitte Juli rund 3500 tote Soldaten postum mit Orden aus. Präsidentenberater Olexij Arestowytsch bezifferte die Verluste Anfang Juni auf "bis zu 10.000".
Derweil will US-Außenminister Antony Blinken zum ersten Mal seit Kriegsbeginn mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow sprechen. Bei dem Telefonat "in den kommenden Tagen" solle es unter anderem um die Freilassung der in Moskau inhaftierten US-Basketballerin Brittney Griner und ihres Landsmanns Paul Whelan gehen, sagte Blinken am Mittwoch.
Neustart der Getreideexporte
Kiew/Moskau (dpa) - Die Umsetzung des Getreide-Deals zwischen Russland und der Ukraine ist einen Schritt weitergekommen. Dabei geht es um die Ausfuhr von Millionen Tonnen ukrainischen Getreides, die aufgrund des russischen Angriffskriegs auf dem Weltmarkt fehlen. Am Mittwoch wurde das vereinbarte Kontrollzentrum zur Überwachung der Handelsschiffe in Istanbul offiziell eröffnet. Das Zentrum unter Beteiligung der Türkei und der Vereinten Nationen werde einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung der Nahrungsmittelkrise leisten, sagte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar. Moskau stellte aber sogleich Bedingungen. Zudem senkte der Staatskonzern Gazprom wie angekündigt die Menge des über die Ostseepipeline Nord Stream 1 gelieferten russischen Erdgases.
Die Transporte sollen bei Ein- und Ausfahrt ins Schwarze Meer kontrolliert werden, um sicherzustellen, dass sie keine Waffen geladen haben. Russland hatte in dem am vorigen Freitag unterzeichneten Abkommen zugesichert, Schiffe und beteiligte Häfen nicht anzugreifen.
Fed erhöht Leitzins
Washington (dpa) - Die US-Notenbank stemmt sich mit aller Macht gegen die galoppierende Inflation. Zum zweiten Mal in Folge erhöhte die Fed am Mittwoch ihren Leitzins um 0,75 Prozentpunkte. Fed-Chef Jerome Powell deutete weitere Erhöhungen in dieser Größenordnung an. In der größten Volkswirtschaft der Welt wächst damit gleichzeitig die Angst vor einem wirtschaftlichen Abschwung. "Ich glaube nicht, dass sich die USA derzeit in einer Rezession befinden", beschwichtigte Powell. Doch ein etwas langsameres Wachstum sei notwendig.
Die Fed geht damit deutlich aggressiver gegen die Inflation als die Europäische Zentralbank (EZB) vor, die im Juli zum ersten Mal seit elf Jahren die Zinsen erhöhte. Die Anhebung im Währungsraum der 19 Mitglieder fiel mit einem halben Prozentpunkt zwar überraschend stark aus. Kritiker werfen der EZB aber vor, die Zinswende zu spät eingeleitet zu haben. Die Teuerung im Euroraum zieht seit Monaten auf Rekordniveau an.
Zugleich haben sich in Europa die Wirtschaftsaussichten infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine deutlich eingetrübt. Hebt die EZB die Zinsen in diesem Umfeld zu rasch an, könnte das vor allem für hoch verschuldete Staaten in Südeuropa zur Belastung werden. Europas Währungshüter stehen ebenso wie die US-Notenbank damit vor einem Balanceakt.
Der jetzige Zinsschritt ist die vierte Erhöhung in diesem Jahr. Erst im Juni hatte die Fed den Leitzins um 0,75 Punkte angehoben. Es war der größte Zinsschritt seit 1994. Erhöhungen des Leitzinses verteuern Kredite und bremsen die Nachfrage. Das hilft dabei, die Inflationsrate zu senken, schwächt aber auch das Wirtschaftswachstum.
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