Selenskyj wendet sich an Bundestag / Lage verzweifelt
Kiew (dpa/mc) - Die Ukraine hat angesichts von Tod, Zerstörung und der Flucht von Millionen Menschen durch den russischen Angriff Deutschland um mehr Hilfe gebeten. Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte gestern laut Simultanübersetzung in einer Videobotschaft an die Abgeordneten des Bundestages, die Menschen in der Ukraine wollten frei leben und sich keinem anderen Land unterwerfen. Er dankte allen Deutschen, die sich für die Ukraine einsetzen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) stellte weitere Unterstützung in Aussicht.
In den umkämpften Gebieten in der Ukraine warteten am 22. Kriegstag immer noch Tausende Menschen auf eine Chance, sich aus belagerten Städten in Sicherheit zu bringen. Vor allem in der Hafenstadt Mariupol herrscht große Not.
Selenskyj sagte in seiner Ansprache im Bundestag: "Russland bombardiert unsere Städte und zerstört alles, was in der Ukraine da ist." Und er fuhr laut Übersetzung fort: "Das sind Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Kirchen, alles. Mit Raketen, mit Luftbomben, mit Artillerie. In drei Wochen sind sehr viele Ukrainer gestorben, Tausende. Die Besatzer haben 108 Kinder getötet, mitten in Europa, bei uns im Jahre 2022."
Selenskyj sprach von einer neuen Mauer durch Europa und appellierte direkt an Scholz: "Der ehemalige Schauspieler, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Ronald Reagan, sagte einmal in Berlin: Zerstört diese Mauer. Ich möchte Ihnen jetzt sagen: Kanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer." Dabei bezog sich Selenskyj auf eine Rede im Jahr 1987, in der Reagan die Sowjetunion aufforderte, die Berliner Mauer niederzureißen ("Tear down this wall.")
Aus dem bombardierten Theater in Mariupol sind Aussagen einer Parlamentsabgeordneten zufolge bereits rund 130 Zivilisten gerettet worden. Zum Zeitpunkt des Angriffs hatten demnach mehr als 1000 Menschen dort Schutz gesucht. Glücklicherweise sei der Luftschutzkeller des Gebäudes intakt geblieben. Für den Angriff geben sich Kiew und Moskau gegenseitig die Schuld.
Insgesamt ist die Lage in Mariupol nach ukrainischer Darstellung verzweifelt. Demnach fehlen Heizung, Strom und sogar Trinkwasser. Aus der Stadt waren zuletzt Bürger in 6500 Privatautos geflohen - trotz Beschuss. Die EU wertet die Belagerung und Bombardierung Mariupols durch russische Truppen als "ernsthaften und schwerwiegenden Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht".
Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat seit dem Einmarsch den Tod von 780 Zivilisten in der Ukraine dokumentiert. Das Hochkommissariat gibt nur Todes- und Verletztenzahlen bekannt, die es selbst unabhängig überprüft hat - die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher liegen.
Präsident Selenskyj dankte allen Deutschen, die sich für die Ukraine einsetzen - auch Unternehmen, die Moral über Gewinn stellen. Zugleich beklagte er, dass er lange vergeblich um Hilfe gebeten und sein Ansinnen eines Nato-Beitritts keinen Erfolg gehabt habe.
Der Kreml lehnte gestern die Anordnung der höchsten Richter der Vereinten Nationen ab, die Gewalt zu beenden. Die Richter hatten dies am Mittwoch angeordnet und damit einer Klage der Ukraine stattgegeben. "Wir können keine Rücksicht auf diese Entscheidung nehmen", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. Das Gericht in Den Haag besitzt keine Mittel, um einen unterlegenen Staat zu zwingen, ein Urteil umzusetzen. Es könnte den UN-Sicherheitsrat anrufen. Dort kann Russland als Ständiges Mitglied jede Entscheidung per Veto blockieren.
Als "inakzeptable und unverzeihlich" bezeichnete der Kreml eine Äußerung von US-Präsident Joe Biden. Dieser hatte Putin am Mittwoch erstmals öffentlich einen Kriegsverbrecher genannt. "Unser Präsident ist eine sehr weise, weitsichtige und kultivierte internationale Persönlichkeit", sagte Kremlsprecher Peskow Interfax zufolge. Solche Worte kämen von dem Präsident eines Landes, "das seit Jahren Menschen auf der ganzen Welt bombardiert". Biden legte gestern indes noch einmal nach. Putin sei ein "mörderischer Diktator, ein reiner Verbrecher, der einen unmoralischen Krieg gegen die Menschen in der Ukraine führt".
Mutiger Protest im TV
Berlin (dpa) - "Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen. Russen sind gegen Krieg." - Mit diesen Sätzen auf einem Plakat hatte Marina Owssjannikowa Anfang der Woche im Moskauer Staatsfernsehen für einen Eklat gesorgt. In der russischen Tagesschau - den Abendnachrichten "Wremja" des Ersten Kanals - hielt sie das Transparent in die Kamera, lief hin und her, während Nachrichtensprecherin Jekaterina Andrejewa über Sanktionen des Westens sprach. "Nein zum Krieg!" rief Owssjannikowa, bevor die Sendung unterbrochen und ein anderer Beitrag eingeblendet wurde.
Nun erklärte sie, trotz Angst um ihre Sicherheit ihr Land nicht verlassen zu wollen. "Wir werden in Russland bleiben", sagte Owssjannikowa in einem Interview des "Spiegel" über sich und ihre beiden Kinder - sie hat einen 17 Jahre alten Sohn und eine 11 Jahre alte Tochter. Zwar mache sie sich große Sorgen, aber: "Ich bin Patriotin, mein Sohn (ist) ein noch viel größerer. Wir wollen auf keinen Fall weg, nirgendwo hin auswandern."
3,1 Millionen Flüchtlinge
Kiew (dpa/mc) - Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine ist inzwischen auf mehr als 3,1 Millionen gestiegen. Das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) teilte gestern mit, dass innerhalb eines Tages knapp 107.000 Flüchtlinge hinzugekommen seien. "In der Mehrzahl Frauen, Kinder und ältere Menschen ließen ihre Wohnungen und oft auch Angehörige hinter sich, ohne zu wissen, was ihnen bevorsteht", erklärte das UNHCR.
Von den Ukrainern, die in andere Länder flüchteten, gelangten rund 60 Prozent nach Polen. Dies sind gut 1,95 Millionen Menschen. Das teilte Polens Grenzschutz gestern bei Twitter mit. Am Mittwoch seien weitere 60.000 Menschen abgefertigt worden, hieß es. Es gebe derzeit keine offiziellen Angaben dazu, wie viele der Kriegsflüchtlinge in Polen geblieben und wie viele bereits in andere EU-Staaten weitergereist sind.
Die Ukraine - flächenmäßig das zweitgrößte Land in Europa - hatte vor Beginn des russischen Angriffs mehr als 44 Millionen Einwohner. Polen und die Ukraine verbindet eine mehr als 500 Kilometer lange Staatsgrenze.
Auch andere direkte Nachbarländer der Ukraine sind betroffen: Rund 350.000 Kriegsflüchtlinge kamen in Moldau an. Rund 283.000 Flüchtlinge erreichten Ungarn. Rund 229.000 gelangten in die Slowakei, rund 169.000 nach Russland und rund 2100 nach Belarus.
In Deutschland wurden bisher rund 187.500 Ukraine-Flüchtlinge registriert. Bundeskanzler Olaf Scholz wollte am Nachmittag mit den Ministerpräsidenten der Länder über die Versorgung und Verteilung der Menschen sprechen.
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