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  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Streit ums Absolute

Philosoph Hegel provoziert auch nach 250 Jahren

Von Bernward Loheide

Hegel
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gemälde von Jakob Schlesinger (1831).

Als Napoleon die Preußen besiegte, ritt er in Jena an einem Mann vorbei, der soeben ein Jahrtausendwerk der Philosophie vollendet hatte. Hegels „Phänomenologie des Geistes“ gibt bis heute Rätsel auf. Auch 250 Jahre nach seiner Geburt ist der Meisterdenker nicht entschlüsselt.

Stuttgart - Seine Denkgebäude sind so kompliziert und abstrakt, dass sich nur wenige Experten darin zurechtfinden. Trotzdem hat seine Philosophie die Massen bewegt und die Weltgeschichte verändert. Dieser Widerspruch ist typisch für Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der vor 250 Jahren, am 27. August 1770, in Stuttgart geboren wurde und unfreiwillig zum Kronzeugen des Marxismus wurde. Denn sein Motto lautete: „Der Widerspruch ist die Regel für das Wahre, der Nicht-Widerspruch die für das Falsche.“

In seiner berühmtesten Schrift, der „Phänomenologie des Geistes“, zeigte er dies anhand der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft: Eigentlich ist ein Knecht abhängig von seinem Herrn, aber durch seine Arbeit überwindet er die vermeintliche Selbstständigkeit äußerer Gegenstände. Der Herr macht diese Erfahrung der Freiheit des Selbstbewusstseins nicht und ist umgekehrt vom Knecht abhängig, ohne dessen Arbeit er kein herrschaftliches Leben führen kann. Karl Marx entdeckte in diesem Gedanken, der in die wechselseitige Anerkennung mündet, eine Theorie der Klassenkämpfe - so entstand das „Kommunistische Manifest“.

Hegel selbst meinte es eigentlich anders. Ihm ging es darum, die Erkenntnistheorie des Deutschen Idealismus zu vollenden. Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte hatten gezeigt: Der Realismus, der von eigenständigen Objekten der menschlichen Wahrnehmung ausgeht, ist naiv. Gegenstände gibt es nicht „an sich“, sondern nur „für uns“. Erst das denkende und wahrnehmende Subjekt ermöglicht die Vorstellung eines Objekts. Jede Erkenntnis beruht auf der Selbsterkenntnis: Im Selbstbewusstsein bin ich (als Subjekt) mir immer schon meiner selbst (als Objekt) bewusst.

Der sich als Geist wissende Geist ist für Hegel daher die Identität von Identität und Nicht-Identität. In ihm sind die Gegensätze im dreifachen Wortsinn „aufgehoben“: vernichtet, bewahrt und auf eine höhere Stufe der Einheit gehoben. Diese spekulative Denkfigur ist der Kern von Hegels Logik und Metaphysik, die den Gegensatz zwischen Bewusstsein und Gegenstand aufhebt.

Auch Unendliches und Endliches können für ihn keine Gegensätze sein, denn sonst hätte das Unendliche eine Grenze, wäre also selber endlich. Absolutheit umfasst auch Relativität, wie Hegel am Beispiel der christlichen Lehre von der Dreieinigkeit Gottes deutlich macht.

Eigentlich sollte der Meisterdenker Pfarrer werden. Seine Studienjahre verbrachte er in der evangelischen Kaderschmiede Württembergs, dem Tübinger Stift. Dort teilte er sich ein Zimmer mit dem Dichter Hölderlin und dem Philosophen Schelling - die hochkarätigste WG der Geistesgeschichte.

Als Professor und später auch Rektor der Berliner Universität hatte Hegel die klügsten Köpfe unter seinen Zuhörern, Bekannten und Freunden. Sein Wirkungskreis war riesig, aber ebenso die Zahl seiner Kritiker. Bis heute gilt er vielen als ein restaurativer preußischer Hofphilosoph, für den der Staat alles und der Einzelne nichts sei.

Doch das ist ein Missverständnis, wie der Jenaer Hegel-Forscher Klaus Vieweg nachgewiesen hat. Hegel, der auch an den Universitäten in Jena und Heidelberg lehrte, war bis zu seinem Tod 1831 ein glühender Anhänger der Französischen Revolution und der liberal-republikanischen Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die preußische Zensur beäugte ihn daher misstrauisch. Seine Unterscheidung zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft machte den Weg frei für moderne politische Theorien, wonach der Staat die Freiheit seiner Bürger garantiert. Die Weltgeschichte verstand er entsprechend als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“.

Hegel traute der Vernunft zu, alles zu begreifen, auch das Absolute. Dieser Anspruch, das Ganze der Wirklichkeit denken und in einem System darstellen zu können, ist ein Hauptgrund dafür, dass sich heute nur noch wenige Intellektuelle als Hegelianer zu erkennen geben - auch wenn Hegel nach wie vor auf der ganzen Welt gelesen wird.

Philosophen wie Udo Tietz von der Uni Stuttgart und Herbert Schnädelbach, der an der Berliner Humboldt-Universität lehrte, halten Hegels Programm für überholt und gescheitert. Denn er habe den übersteigerten Anspruch gehabt, vom Standpunkt des Absoluten aus zu philosophieren - quasi aus der Perspektive Gottes, nicht eines endlichen Wesens, das an historische und soziale Kontexte gebunden ist.

In der Tat schrieb Hegel: „Jede Philosophie ist ein Begreifen des Absoluten, aber nicht als eines Fremden und somit ein Sich-selbst-Begreifen des Absoluten.“ Doch laut Vieweg meint Hegel mit dem Absoluten nichts Mystisches oder Unbegreifliches, sondern die menschliche Freiheit: „Der Gedanke der Freiheit ist absolut, weil er unser Innerstes ausmacht. Das ist etwas Unhintergehbares und Unüberbietbares“, erklärt Vieweg. Nur so sei auch mit Hegel der erste Paragraf des Grundgesetzes zu verstehen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. „Juristen nennen das den Absolutheits- oder Ewigkeitsparagrafen.“ (dpa)


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