Biden: Gefahr "sehr hoch" / Moskau versichert Truppenabzug
Brüssel (dpa) - Die Sorge vor einem russischen Angriff auf die Ukraine wächst trotz aller Beteuerungen aus Moskau. US-Präsident Joe Biden sagte gestern in Washington, die Gefahr einer Invasion sei "sehr hoch". Nach seiner Einschätzung kann es "in den nächsten paar Tagen" dazu kommen. Russland bekräftigte dagegen erneut einen Teilabzug seiner Truppen von der ukrainischen Grenze. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten kamen in Brüssel zu einem Sondertreffen zusammen, um Vorbereitungen für mögliche Sanktionen gegen Russland für den Fall einer Aggression voranzutreiben.
Alles deute darauf hin, dass Russland bereit dazu sei, die Ukraine anzugreifen, sagte Biden. Es gebe auch Grund zur Annahme, dass Moskau in eine Operationen unter falscher Flagge verwickelt sei - so werden Machenschaften bezeichnet, um einen Vorwand für einen Angriff künstlich zu inszenieren. Ähnliche Sorgen äußerten Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.
Bundeskanzler Olaf Scholz betonte nach dem EU-Sondertreffen, Russland habe an der Grenze zur Ukraine genug militärisches Potenzial für eine Invasion. "Das ist bedrohlich, und das bleibt auch eine bedrohliche Situation, und da darf man nicht naiv sein."
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin warf Moskau eine weitere Aufstockung von Truppen und Ausrüstung vor. Er sagte nach Beratungen der Verteidigungsminister der Nato-Staaten: Die Russen beteuerten zwar, dass sie einige ihrer Kräfte abzögen, nachdem Übungen abgeschlossen seien, "aber wir sehen das nicht - ganz im Gegenteil". Der Pentagon-Chef erklärte: "Wir sehen, dass sie die mehr als 150.000 Soldaten, die sie bereits entlang der Grenze stationiert haben, aufstocken. Sogar in den vergangenen paar Tagen." Die Truppen rückten näher an die Grenze heran.
Scholz und die anderen EU-Spitzenpolitiker betonten gestern die Doppelstrategie gegenüber Russland: Einerseits Androhung harter Sanktionen, andererseits Gesprächsbereitschaft. "Wenn es zu einer militärischen Aggression gegen die Ukraine kommt, dann wird das Konsequenzen haben, und wir sind vorbereitet, auch dann mit Sanktionen zu reagieren", sagte Scholz. Der Kanzler berichtete seinen Kollegen vom Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am Dienstag in Moskau.
Auch Biden sieht nach wie vor die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung. Darum habe er US-Außenminister Antony Blinken zu einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates nach New York geschickt. Er selbst habe zurzeit keine Pläne, erneut mit Putin zu telefonieren, sagte der US-Präsident. EU-Ratschef Charles Michel rief Russland zur Deeskalation auf: "Wir brauchen konkrete, sichtbare Auswirkungen vor Ort."
Die Nato äußerte Sorge über Berichte über angebliche Angriffe gegen prorussische Separatisten in der Ostukraine. "Wir sind besorgt darüber, dass Russland versucht, einen Vorwand für einen bewaffneten Angriff auf die Ukraine zu inszenieren", sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg. Man wisse nicht, was passiere, aber der russische Truppenaufmarsch im Grenzgebiet zur Ukraine sei der größte in Europa seit Jahrzehnten. Zugleich wisse man auch, dass es in der Ukraine viele russische Geheimdienstler gebe, die auch im Donbass aktiv seien. Und man habe Versuche gesehen, mit "Operationen unter falscher Flagge" einen Vorwand für eine Invasion der Ukraine zu schaffen. Ostukrainischen Separatisten hatten ukrainische Regierungstruppen zuvor Verstöße gegen den geltenden Waffenstillstand vorgeworfen.
Russland bekräftigte gestern hingegen erneut den Teilabzug seiner Truppen von der ukrainischen Grenze. Nach dem Abschluss von Manövern seien Panzer des Wehrbezirks West zum Abtransport bereit gemacht worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Dazu veröffentlichte es ein Foto, dass die Kampffahrzeuge zeigen soll. Zudem betonte Russland, seine Truppen nach Ende eines Militärmanövers aus dem Nachbarland Belarus abzuziehen. Die Übungen im Süden von Belarus an der Grenze zur Ukraine sollen planmäßig an diesem Sonntag zu Ende gehen.
Scholz bei Putin
Moskau (dpa) - Bundeskanzler Olaf Scholz hat den russischen Präsidenten Wladimir Putin in einem direkten Gespräch zu einem umfangreichen Dialog über den Ukraine-Konflikt aufgerufen. "Lassen Sie uns diese Dinge im Wege des Dialogs weiter bereden. Wir dürfen nicht in einer Sackgasse enden, die wäre ein Unglück", sagte Scholz am Dienstag in Moskau. Scholz sagte, er sehe keinen vernünftigen Grund für den russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine. Deswegen sei nun Deeskalation gefragt. Scholz begrüßte Berichte über einen ersten Truppenabzug. "Unsere beiden Länder sind historisch und kulturell eng miteinander verflochten", sagte Scholz weiter. Es gebe vielfältige Beziehungen und auch großes Potenzial für die Wirtschaftsbeziehungen.
Scholz drohte andererseits erneut mit weitreichenden Konsequenzen bei einem militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. "Wir jedenfalls wissen, was dann zu tun ist", betonte er. "Und mein Eindruck ist, dass das auch alle anderen ganz genau wissen." Zur Rolle der Gasfernleitung Nord Stream 2 in dem Konflikt sagte Scholz: "Was die Pipeline selber betrifft, wissen alle, was los ist."
Orkane über Deutschland
Offenbach/Hamburg (dpa) - Der Sturm "Ylenia" hat Bäume umstürzen lassen, zu gesperrten Straßen geführt und den Zug- und Flugverkehr durcheinandergewirbelt. Zwei Autofahrer wurden von umstürzenden Bäumen erschlagen. Die Einsatzkräfte können nur kurz durchatmen - der nächste heftige Sturm ist bereits im Anmarsch.
"Es zieht noch ein Orkan auf", sagte eine Meteorologin des Deutschen Wetterdienstes (DWD) in Hamburg am Donnerstag. "Zeynep" könnte in Teilen noch stärkere Orkanböen bringen. Vor allem der Norden Deutschlands soll von dem neuen Sturm betroffen sein.
In Sachsen-Anhalt bei Südharz starb ein 55-Jähriger gestern auf einer Landstraße. Ein Baum sei durch den starken Wind auf den Wagen des Mannes gefallen, teilte die Polizei mit. Daraufhin habe sich der fahrende Wagen am Morgen überschlagen. Auf einer Landstraße in Niedersachsen zwischen Bad Bevensen und Seedorf starb ein 37 Jahre alter Mann. Auch hier stürzte ein Baum auf das Auto.
Nach zahlreichen Schäden durch den Sturm und vielen Zugausfällen gestern Vormittag begann die Deutsche Bahn mit Aufräumarbeiten. "Für eine Schadensaufnahme ist es noch zu früh. Die Schäden sind aber erheblich", sagte Bahn-Sprecher Achim Stauß. "Im Moment sind Reparaturtrupps der Bahn mit Hochdruck unterwegs, um Strecken freizuräumen, mit der Kettensäge Bäume zu schneiden oder auch Oberleitungen zu reparieren, was bei diesen Wetterbedingungen nicht ganz einfach ist."
Wegen des andauernden Sturms sei mit weiteren Störungen zu rechnen. Probleme werde es auch durch die zweite erwartete Sturmfront geben, sagte Stauß. "Ich fürchte, unsere Reisenden müssen noch über einen längeren Zeitraum mit Einschränkungen leben."
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