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Über 16 Jahre Angela Merkel

Von Wim van Geenen

Merkel
Das Markenzeichen der Kanzlerin: Die Merkel-Raute. (Foto: dpa)

Buenos Aires (AT) - Als Angela Merkel 2005 Kanzlerin wurde, war die Bundesrepublik noch ein anderes Land. Das iPhone war noch nicht erfunden, die sozialen Netzwerke steckten gerade in den Kinderschuhen und eine flächendeckende Verbreitung des mobilen Internets sollte es erst Jahre später geben. Es waren die letzten Jahre eines Landes, in dem gedruckte Tageszeitungen gelesen wurden und Fleischkonsum, Flugreisen und schnelle Autos noch unumstrittene Statussymbole waren. In Kneipen und Restaurants wurde geraucht, Frauen hatten nach einer Scheidung einen lebenslangen Unterhaltsanspruch, an eine „Ehe für Alle“ war nicht zu denken.

Auch politisch war das Land ein anderes: Die heute verkümmerten „Volksparteien“ erreichten bei Wahlen ohne Probleme weit über 30 Prozent, die Grünen kamen meist gerade so über die 5-Prozent-Hürde. Von der AfD war noch keine Rede, die Gemütlichkeit der „alten Bundesrepublik“ war trotz der Wiedervereinigung noch greifbar. International hatte sich die Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von einer bipolaren in eine unipolare Welt transformiert. Nach den Anschlägen des 11. Septembers formulierten die USA einen klaren Führungsanspruch.

In diesem Kontext wird am 22. November 2005 eine Frau Kanzlerin, der dies zuvor nur wenige zugetraut hätten. Angela Merkel, Pfarrerstochter, promovierte Physikerin und aufgewachsen in der damaligen DDR, war mit der Wende in die Politik gekommen. Zugute kam ihr dabei, dass sie sich als Physikerin mit Computern auskannte und der „Demokratische Aufbruch“, eine politische Gruppierung der Wendezeit, nach einer Systemadministratorin suchte. Nach der Fusion des Demokratischen Aufbruchs mit der CDU wurde Angela Merkel 1990 Mitglied der CDU - obwohl sie sich zunächst für eine Mitgliedschaft bei der SPD interessierte und der CDU eher ablehnend gegenüberstand.

Da die politischen Kräfte der DDR im neuen System ausgedient hatten, gelang Merkel mit der Wiedervereinigung ein schneller Aufstieg. Sie hätte das Gefühl gehabt, man müsse jetzt etwas tun, sagt sie dem Spiegel im Jahr 2005 im Interview. Noch im Jahr 1990 wurde sie Ministerialrätin im Bundespresseamt; bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990 gewann sie für die CDU ein Direktmandat in Vorpommern. Kurz nach der Wahl bot ihr der damalige Kanzler Helmut Kohl einen Ministerposten im neuen Ministerium für Frauen und Jugend an - der Beginn jener Zeit, in der Merkel als „Kohls Mädchen“ häufig belächelt wurde.

Dieser Titel blieb ihr auch dann erhalten, als sie in der darauffolgenden Legislaturperiode Umweltministerin wurde. In der westdeutsch geprägten CDU der Nachwendezeit war es für die häufig unsicher wirkende Ministerin „aus dem Osten“ nicht leicht, sich gegen die eingespielten Seilschaften ihrer männlichen Kollegen zu behaupten. Merkel konnte ihren Aufstieg trotzdem fortsetzen: Als die CDU die Bundestagswahl 1998 verlor, wurde Wolfgang Schäuble Bundesvorsitzender und Merkel mit ihm Generalsekretärin der Partei.

Mit der Spendenaffäre der CDU kam jener Moment, an dem Merkels Zeit als „Kohls Mädchen“ endete. In einem Gastbeitrag in der FAZ brach sie im Dezember 1999 öffentlich mit ihrem politischen Ziehvater. Von „alten Schlachtrössern“ wie Helmut Kohl müsse sich die Partei lösen und stattdessen eigene Wege gehen, so Merkel damals. Der Text war ein Alleingang, nicht mit Schäuble abgesprochen.

Mit Beginn der 2000er-Jahre kommt die „unbekannte Frau aus dem Osten“ immer weiter aus der Deckung. Unbelastet von der Spendenaffäre wird Merkel im Jahr 2000 Parteivorsitzende. Die Kanzlerkandidatur 2002 überlässt sie trotzdem Edmund Stoiber - ihre eigenen Machtressourcen sind noch nicht ausreichend für diese Rolle. Stoiber verliert die Wahl, aber dankt Merkel ihre Unterstützung mit dem Posten der Fraktionsvorsitzenden. Dessen voriger Inhaber, Friedrich Merz, hat Merkel diese Niederlage bis heute nicht verziehen.

Als der SPD-Kanzler Gerhard Schröder nach einer Reihe verlorener Landtagswahlen im Jahr 2005 auch eine Vertrauensfrage im Bundestag verliert, scheint Merkels Zeit gekommen. Sie wird Kanzlerkandidatin der Union und gewinnt die Wahl. 35,2 Prozent für die CDU, so das Ergebnis - gerade ein Prozent mehr als die SPD, weniger als Stoiber 2002 holte und insgesamt keineswegs ein Rekordergebnis für die Union. Weil das für die angestrebte schwarz-gelbe Regierung mit der FDP nicht reicht, wird die erste Merkel-Regierung eine große Koalition mit der SPD.

Die erste Herausforderung für Merkel kam im Jahr 2008 mit der Finanzkrise. Nachdem in den USA die Bank „Lehmann-Brothers“ kollabierte und auch in Deutschland die „Hypo-Real-Estate“ kurz vor dem Zusammenbruch stand, musste schnell gehandelt werden, um ein vollständiges Zusammenbrechen des Finanzsystems zu verhindern. „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind“, so die bleibenden Worte von Merkel am 5. Oktober 2008. Kurz darauf werden 480 Milliarden Euro für die Bankenrettung bereitgestellt, die Autoindustrie soll mit der sogenannten „Abwrackprämie“ gerettet werden. Weshalb genau Banken mit derartigen Summen aus ihrer selbstverschuldeten Krise gerettet werden sollten, wurde jedoch kaum erklärt. Häufig fiel der Begriff der „Systemrelevanz“ - ein technokratisches Argument, dass große Teile der Bevölkerung nie wirklich nachvollziehen konnten.

Merkel
Sie geht: Angela Merkel nach ihrer letzten Rede im Bundestag. (Foto: dpa)

Als Europa im Jahr 2010 die gröbsten Folgen der weltweiten Finanzkrise gerade verkraftet glaubt, schlägt die Krise zurück. Hohe Staatsverschuldung in Südeuropa, die Folgen der Krise von 2008 und institutionelle Probleme innerhalb der Eurozone führen in die sogenannte Eurokrise. Merkel, seit 2009 erneut Kanzlerin einer schwarz-gelben Koalition mit der FDP, wird in dieser Krise zum Symbol. „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“, sagt sie am 19. Mai 2010. Während „Bild“-Zeitung und Euro-Skeptiker in Deutschland eine unrühmliche Kampagne gegen angebliche „Pleite-Griechen“ fahren, wird Merkel in Südeuropa ebenfalls zur Reizfigur. Sie und ihr damaliger Finanzminister Wolfgang Schäuble stehen im Süden der Union wie niemand anderes für eine aus dem Norden aufgezwungene Sparpolitik. Bereits an diesem Punkt zeigt sich, dass Merkel zwar nicht antieuropäisch ausgerichtet war, Europa aber dennoch nie als die „Vision“ verstand, wie dies manche ihrer Kollegen taten. Die wenig solidarische „Rettung“ der Südeuropäer führte in den entsprechenden Ländern bis heute zu einer teilweise starken Ablehnung der EU und mündete in Deutschland letztlich in der Gründung der AfD. Zur Bundestagswahl 2013 scheiterte die neue Partei noch an der 5-Prozent-Hürde, aber die Gründung der damaligen „Professorenpartei“ schien ein Zeichen zu sein, dass es hinter dem System Merkel langsam aber sicher zu rumoren begann.

Die Wahl 2013 war zugleich jene Wahl, bei der Merkel mit dem Spruch warb, der ihren Regierungsstil wohl kaum hätte besser beschreiben können. Nach acht Jahren Kanzlerschaft standen auf ihren Plakaten lediglich drei Worte: „Sie kennen mich“. Ohne zu wissen, dass diese dritte Kanzlerschaft ihre wohl schwierigste werden würde, holte Merkels CDU bei der Bundestagswahl 2013 41,5 Prozent - das beste Ergebnis ihrer vier Amtszeiten und Startpunkt für eine neue große Koalition mit der SPD.

Knapp zwei Jahre später, am 31. August 2015, folgten drei weitere Worte Merkels, die wohl vor allen Anderen in Erinnerung bleiben werden: „Wir schaffen das“. Zuvor hatten die Migrationsbewegungen nach Deutschland spürbar angezogen, nicht zuletzt in Form einer Gruppe von tausenden Geflüchteten, die in Budapest festsaßen und sich teils zu Fuß über die Autobahn auf den Weg nach Deutschland machten. Merkels Entscheidung, die Grenzen für diese Menschen offen zu lassen (und nicht, wie häufig behauptet, zu öffnen), teilt ihre Kanzlerschaft in ein davor und ein danach. Es ist jene Entscheidung, die der CDU-Kanzlerin bis tief in linke Kreise großen Respekt einbrachte, aber auch jene Entscheidung, die der AfD zu starkem Auftrieb verhalf. Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ war Angela Merkels politische Zäsur: Zuvor als Kanzlerin beinahe unangreifbar, zerteilten die Folgen ihrer Politik die Gesellschaft insbesondere im Osten Deutschlands in zwei Lager. Und auch in ihrer eigenen Partei wurde das Klima für Merkel ungemütlicher.

Sichtbar wurde das nach der Bundestagswahl 2017. Nachdem klar war, dass Merkel ein viertes Mal antreten würde, begann die Legislaturperiode holprig. Nicht nur zog die AfD erstmals mit über 12 Prozent in den Bundestag ein (Gauland: „Wir werden sie jagen“); auch die anstehenden Koalitionsverhandlungen gestalteten sich als schwierig. In Erinnerung bleiben wird der absurde Streit mit Horst Seehofer über die „Obergrenze“ für Asylsuchende, der in einem fadenscheinigen Kompromiss endete. Wäre sie nicht nochmal angetreten, wäre nach 12 Jahren ein Abgang in Würde noch möglich gewesen, so die vielfache Einschätzung damals.

Merkel aber blieb. Nachdem die Jamaika-Verhandlungen an der FDP scheiterten, blieb ihr nur die Fortsetzung der ungeliebten Großen Koalition. Obwohl ihr Regierungshandeln bereits zuvor nicht gerade von großen Visionen bestimmt war, wirkte sie in ihrer letzten Amtszeit manchmal geradezu abwesend.

Lediglich in der Corona-Pandemie konnte sie sich nochmals als „Krisenkanzlerin“ beweisen - bevor die einigermaßen einheitliche Linie auch hier in Maßnahmenchaos und das wenig effiziente Format der „Ministerpräsidentenkonferenz“ überging.

Die Corona-Pandemie als letzter Akt der Kanzlerschaft von Angela Merkel versinnbildlichte, was ihre gesamte Regierungszeit ausmachte: Regieren war für sie meist reagieren. Während ihre männlichen Kollegen Kriege gegen ein Virus ausriefen, wartete sie Studien und Infektionszahlen ab. Ihr Stil war geprägt davon, Dinge zunächst einmal passieren zu lassen und dann zu sehen, wie sich eine angemessene Reaktion umsetzen lässt. Angela Merkel hatte nie eigene politische Projekte und wenn, dann nur solche, von denen sie bereits wusste, dass sie funktionieren. Abgesehen von ihren Reaktionen auf das Unvermeidliche ist es beinahe unmöglich, sie rückblickend mit einem konkreten politischen Projekt in Verbindung zu bringen.

Nach 16 Jahren Merkel haben die Corona-Pandemie und das Hochwasser jedoch auch gezeigt, wie sehr dieser Regierungsstil Deutschland zu einem Land der verpassten Chancen gemacht hat. Das allgemeine Gefühl, dass es in Deutschland unter Merkel niemandem wirklich besser, aber auch nicht schlechter gegangen sei, löst sich auf, wenn die tatsächlichen Folgen dieser Art zu Regieren im Land offensichtlich werden: Faxgeräte, Papierlisten und eine zuweilen kafkaeske Bürokratie gesellen sich zu Schulen ohne WLAN, Funklöchern auf Autobahnen und Radwegen, die im Nichts enden. Von Klimawandel und Energiewende erzählten Merkels Minister gerne auf Konferenzen im Ausland, während im eigenen Land Autobauer und Kohleindustrie hofiert wurden, wo es nur möglich war. Die teils aktive Verhinderung von Zukunftsprojekten war ebenso Teil von Merkels Regierungszeit wie die völlige Planlosigkeit bei anderen Themen: Schlechte Zugverbindungen, der fehlende Internetausbau und eine kaum digitalisierte Verwaltung sind nur einige Beispiele dafür, wie Merkels Mantra „Politik ist das, was möglich ist“ häufig in eine grundsätzliche Orientierungslosigkeit führte.

Dennoch hat Merkel auch bemerkenswertes geleistet: In ihrer Regierungszeit ist Deutschland (zumindest geistig) ein modernes Land geworden. Merkel hat dem Land (und ihrer Partei) den Mief der alten Bundesrepublik ausgetrieben; sie hat dafür gesorgt, dass Männertypen wie Friedrich Merz oder Franz-Joseph Strauß heute keine politischen Erfolgsmodelle mehr sind. Indem sie alle selbsternannten „Alphatiere“ hinter sich ließ, öffnete sie den politischen Raum jenseits der konservativen Männerbünde. So kam nicht nur (gegen Merkels Willen) die „Ehe für Alle“; auch viele andere zuvor vernachlässigte Themen rückten auf die Tagesordnung. Wo die CDU früher der Deutschtümelei anhing, wurde es unter Merkel europäischer, internationaler, beinahe ein Stück weit fortschrittlich. Nicht umsonst kamen zu Wahlen die Witze, ob Merkel selbst heimlich SPD oder Grüne wähle.

Auch international hat Merkel viel geleistet. Sie hat Deutschland und die EU beim Übergang von einer unipolaren zu einer multipolaren Weltordnung begleitet. Nicht zuletzt der Krieg in Syrien, die Ukraine-Krise und das Desaster um den Afghanistan-Einsatz haben gezeigt, dass die Weltordnung fragil geworden ist. Der Aufstieg Chinas, der zeitweilige Rückzug der USA aus dem Weltgeschehen und die Spaltung der EU haben die Situation nicht einfacher gemacht. Hier hat Merkel einen kühlen Kopf bewahrt. Während andere Regierungschefs kamen und gingen, blieb sie und verhandelte selbst mit jenen, die ihr persönlich zuwider waren. Ein längst ikonisches Foto zeigt sie entnervt im Kreis der Staatenlenker, gegenüber sitzt Donald Trump mit beleidigt verschränkten Armen. Gegenüber Russland und China, aber insbesondere mit der Wahl Trumps zum US-Präsidenten wurde Merkel erneut zur Symbolfigur, zur Anführerin des „Westens“. Diesen Titel hatte sie sich verdient: Während andere sich zurückzogen oder mit Brexit-Plänen der nationalen Eigenbrötlerei nachgingen, war Merkel eine unermüdliche Vertreterin des Multilateralismus. Inwiefern dabei Menschenrechte oder deutsche Wirtschaftsinteressen überwogen, kann diskutiert werden, aber Merkel blieb immerhin am Verhandlungstisch sitzen. Die aktuellen Krisen und die heutige Situation des „Westens“ zeigen jedoch auch, dass der Merkelsche Multilateralismus schon bald auf verlorenem Posten stehen könnte.

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16 Jahre Kanzlerschaft haben Spuren hinterlassen. (Foto: dpa)

Nach 31 Jahren politischer Karriere und 16 Jahren Kanzlerschaft ist Angela Merkel eine historische Figur. Die Jahrgänge, die wie der Autor Mitte der 90er-Jahre in Deutschland geboren sind, kennen nur sie. Sie hat als Kanzlerin eine ganze Generation von der Kindheit bis ins Berufsleben begleitet. Vielen ist es dabei gut gegangen.

Bleiben wird von Angela Merkel vieles: Ihre Persönlichkeit, ihre Nüchternheit und ihre stets sachliche Herangehensweise wird weltweit nicht nur von Politikern geschätzt. Dieser Führungsstil, der international auch mit dem in Deutschland unbeliebten Begriff „Leadership“ umschrieben wird, ist es, was Angela Merkel über den Globus Bewunderung einbrachte, im Ausland stellenweise noch viel mehr als im eigenen Land.

Ihr Erfolgsgeheimnis lag vermutlich darin, stets unterschätzt zu werden. Während sich die anderen aneinander aufrieben, saß Merkel Machtkämpfe aus oder beendete sie schnell zu ihren Gunsten. Anders als andere Regierungschefinnen ließ sich Merkel nie von Medien auf ihren Haarschnitt oder ihren Kleidungsstil reduzieren. Sie war nicht eitel, dafür aber pragmatisch. Selbst in linken Kreisen erlangte sie damit eine gewisse Hochachtung.

Bei der Verkündung der Wahlergebnisse vom Sonntag stand Merkel auf der Bühne der CDU am Rand. Bereits im Wahlkampf war sie nicht mehr besonders in Erscheinung getreten. Nach 16 Jahren im Amt ist das auch gut so, jetzt sind andere dran. Viele sind jedoch nicht geblieben: Außer ihren politischen Vertrauten Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer konnte sich neben Merkel kaum ein „natürlicher“ Nachfolger entwickeln. Der Gang in die Opposition wäre jetzt für die CDU die Gelegenheit, nach 16 Jahren aufzuatmen und sich neu zu organisieren.


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