Bundestag billigt Lieferung / Große Mehrheit für gemeinsamen Antrag
Berlin/Kiew (dpa/wvg) - Mit dem Ja des Bundestags zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine hat Deutschland eine weitere Kehrtwende vollzogen und sich im russischen Angriffskrieg so klar wie nie an die Seite Kiews gestellt. Das Parlament beschloss gestern in Berlin einen gemeinsamen Antrag von Ampel-Koalition und Union.
Mit insgesamt 586 Stimmen forderte eine große Mehrheit der Abgeordneten des Bundestags die Bundesregierung auf, die „Lieferung benötigter Ausrüstung an die Ukraine fortzusetzen und wo möglich zu beschleunigen und dabei auch die Lieferung auf schwere Waffen und komplexe Systeme etwa im Rahmen des Ringtausches zu erweitern“. Mit Nein stimmten 100 Abgeordnete, 7 enthielten sich. Die Bundesregierung hatte am Dienstag die Lieferung von Gepard-Flugabwehrpanzern der deutschen Rüstungsindustrie genehmigt. Sie sind die ersten schweren Waffen, die direkt aus Deutschland in die Ukraine geliefert werden. Vor dem Ukraine-Krieg galt der Grundsatz, keine Waffen in Krisengebiete abzugeben.
Die Regierung in Kiew, die schon lange schwere Waffen gefordert hatte, lobte Berlin für das klare Votum. Russlands Ex-Präsident Dmitri Medwedew sieht die Entscheidung hingegen als Rückfall in die Nazi-Zeit. „Es wird traurig enden.“ US-Präsident Joe Biden kündigte an, die Ukraine mit weiteren 33 Milliarden US-Dollar (31,4 Milliarden Euro) unterstützen zu wollen.
Im Bundestag warf Oppositionsführer Friedrich Merz dem Kanzler vor, über Wochen die Frage offen gelassen zu haben, ob die Ukraine schwere Waffen erhalten solle. „Das ist nicht Besonnenheit, wie Sie es in den Ampel-Fraktionen versuchen, in den letzten Tagen zu erklären. Das ist Zögern, das ist Zaudern und das ist Ängstlichkeit“, sagte der CDU-Chef. Scholz' Warnung, die Lieferung würde möglicherweise einen Dritten Weltkrieg auslösen, nannte Merz „ebenso unverantwortlich wie aus unserer eigenen historischen Erfahrung heraus falsch und irreführend“. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hielt Merz „parteipolitische Profilierung“ vor. Die Opposition aus Linken und AfD sieht die Gefahr eines Atomkriegs, weil Deutschland nun zur Kriegspartei werde.
Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak lobte die Entscheidung des Bundestags. „Diese Abstimmung wird als einer der letzten Sargnägel für Putins Lobbyarbeit in Europa in die Geschichte eingehen sowie als Rückkehr der deutschen Führung“, twitterte er. Er kündigte zudem als Vergeltung für russische Angriffe auf Zivilisten Angriffe auf Russland an. „Die Ukraine wird sich auf jede mögliche Weise verteidigen, einschließlich Attacken gegen Lager und Stützpunkte der russischen Mörder. Die Welt erkennt dieses Recht an.“ Podoljak verwies dazu auf US-Außenminister Antony Blinken.
Unterdessen zeigte sich UN-Generalsekretär António Guterres bei einem Besuch in mehreren Vororten der ukrainischen Hauptstadt fassungslos über das Ausmaß der Zerstörung. Es sei wichtig, den Horror „sorgfältig aufzuklären“ und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, sagte Guterres in dem Vorort von Kiew. Die Bilder getöteter ukrainischer Zivilisten aus Butscha hatten Anfang des Monats rund um die Welt für Entsetzen gesorgt.
In Kiew traf Guterres den ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj und sprach mit ihm über einen Flüchtlingskorridor aus dem heftig umkämpften Mariupol. „Mariupol ist eine Krise innerhalb einer Krise, tausende Zivilisten brauchen lebensrettende Hilfe“, sagte Guterres nach dem Treffen. Der UN-Chef berichtete Selenskyj, dass er bei seinem Gespräch mit Kremlchef Wladimir Putin am Dienstag eine prinzipielle Zusage dafür bekommen habe, dass die Vereinten Nationen beim Aufbau eines solchen Fluchtkorridors zusammen mit dem Roten Kreuz beteiligt würden.
Von Seiten der USA kündigte US-Präsident Biden an, den Kongress um die Bewilligung weiterer hoher Milliardensummen für die Ukraine bitten zu wollen. 20 Milliarden sollen für Militärhilfe genutzt werden, etwa 8,5 Milliarden für wirtschaftliche Hilfe. „Wir müssen das tun“, sagte Biden bei einem Auftritt im Weißen Haus. Die Hilfe sei nicht billig. Noch teurer käme es aber zu stehen, Russlands Aggression unbeantwortet zu lassen, mahnte er.
Kein Gas für Polen und Bulgarien
Warschau/Sofia (dpa) - Im Gasstreit zwischen Russland und dem Westen stellt der Staatskonzern Gazprom seine Lieferungen nach Polen und Bulgarien ein. „Der Hahn wurde zugedreht“, sagte Polens Klimaministerin Anna Moskwa am Mittwoch im polnischen Hörfunk. Durch die Jamal-Pipeline fließe kein russisches Gas mehr. Auf die Bundesrepublik hat die Entscheidung zunächst wohl keine Auswirkungen. „Die Versorgungssicherheit in Deutschland ist derzeit weiter gewährleistet“, sagte ein Sprecher der Bundesnetzagentur.
Gazprom bestätigte den Lieferstopp, weil die Unternehmen PGNiG und Bulgargaz nicht rechtzeitig in Rubel gezahlt hätten. Sofia und Warschau betonten dagegen, ihre Verpflichtungen erfüllt zu haben. Alle Zahlungen, die der Vertrag erforderlich mache, seien rechtzeitig getätigt worden, teilte die bulgarische Regierung mit.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte, es sei ein „weiterer Versuch Russlands, Gas als Erpressungsinstrument einzusetzen“. Man sei auf eine solche Lage vorbereitet.
Israel gedenkt Holocaust-Opfern
Jerusalem/Auschwitz/Frankfurt (dpa) - Israel hat am Donnerstag der sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden gedacht. Bei Gedenkveranstaltungen waren auch die deutsche Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und Bahnchef Richard Lutz dabei. Am Vormittag heulten für zwei Minuten landesweit die Sirenen. Das öffentliche Leben stand kurzzeitig still. Auch in Polen erinnerten rund 2000 junge Juden aus verschiedenen Ländern bei einem „Marsch der Lebenden“ an die Opfer des Holocaust.
Im Parlament in Jerusalem nahm Bas an einer Zeremonie teil, bei der die Namen von Opfern des Holocaust verlesen wurden. Die SPD-Politikerin entzündete eine Kerze im Gedenken an die aus ihrer Heimatstadt Duisburg deportierte Jüdin Irma Nathan, die 1942 von den Nazis ermordet wurde. Lutz legte in der Gedenkstätte Yad Vashem einen Kranz nieder.
Die Reichsbahn spielte bei der Vernichtung der europäischen Juden eine entscheidende Rolle. Deutsche-Bahn-Chef Lutz sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Unsere Vorgängerorganisation war durch Deportationen wesentlich an der Ermordung von europäischen Juden, Sinti und Roma beteiligt. Millionen von Menschen wurden mit Zügen ins Verderben gebracht.“
In Israel leben nach Behördenangaben mehr als 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch 161.400 Holocaust-Überlebende.
Beim „Marsch der Lebenden“ in Polen gingen junge Juden zusammen mit einigen Überlebenden der Schoah den gut 3,2 Kilometer langen Weg von Auschwitz nach Birkenau, dem größten der deutschen Vernichtungslager in der NS-Zeit.
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