„Die Frauen von Belarus“ von Alice Bota
Von Stella Venohr
Berlin - Es klingt wie ein modernes Aschenputtel-Märchen: Die schüchterne, unpolitische Hausfrau neben dem starken Ehemann. Sie kümmert sich um die Kinder, auch als er in die Politik gehen will. Doch als ihr Liebster von dem Antagonisten der Geschichte verhaftet wird, muss sie aus ihrer Rolle treten und wird selbst zur demokratischen Hoffnungsfigur für ein unterdrücktes Volk. So ähnlich könnte eine kurze Zusammenfassung der Geschichte von Swetlana Tichanowskaja lauten, der Frau, die als Gesicht der Proteste in Belarus und als Gegenspielerin von Machthaber Lukaschenko vor rund einem Jahr plötzlich berühmt wurde. Journalistin Alice Bota widmet sich in ihrem Buch „Die Frauen von Belarus. Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit“ eben dieser Frau und den Protesten.
„Es war wie eine Revolution in mir“, wird Tichanowskaja in dem Buch zitiert. Bota hat sie getroffen und Interviews mit ihr geführt und sagt über die 38-Jährige: „Es ist eine Person, die sehr hart an sich arbeitet und die von einer unglaublichen Ernsthaftigkeit getragen ist. Das habe ich so selten erlebt.“ Man bemerke, dass sie sich unheimlich bemühe, aufrichtig zu sein und diese Rolle auszufüllen.
Swetlana Tichanowskaja war bei der weithin als gefälscht geltenden Präsidentenwahl am 9. August 2020 anstelle ihres inhaftierten Ehemannes Sergej Tichanowski angetreten. Ihre Anhänger sehen sie als wahre Siegerin - und nicht den immer wieder als „letzten Diktator Europas“ kritisierten Lukaschenko, der sich mit 80,1 Prozent der Stimmen zum Gewinner erklären ließ. Bei monatelangen Protesten gegen ihn gab es mehr als 30.000 Festnahmen, Hunderte Verletzte und zahlreiche Tote.
Besonders die Bilder der protestierenden Frauen gingen um die Welt: In weißen Kleidern, mit Blumen und Schleifen standen sie den schwarz gekleideten Polizisten gegenüber. Sanftheit und Einigkeit gegen Härte und Gewalt - das sollten die Bilder ausdrücken. So auch bei Tichanowskajas Mitstreiterinnen Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa. „Eigentlich müssten die drei Frauen politische Konkurrentinnen sein: Immerhin hatte auch Zepkalos Ehemann kandidieren wollen und ebenso Kolesnikowas Freund Viktor Babariko. Aber nun springen die Frauen Swetlana Tichanowskaja bei, damit sie weitermacht“, heißt es in dem Buch.
Es entsteht eine Solidarität zwischen den Frauen. „Sie schaffen, was Oppositionspolitiker vor ihnen in Belarus nie geschafft haben.“ Auch symbolisch präsentieren die drei eine Einheit innerhalb der Proteste: „Swetlana Tichanowskaja ballt die Faust. Maria Kolesnikowa formt mit beiden Händen das Herz. Veronika Zepkalo reckt die Finger zum Victory-Zeichen. Die drei Zeichen werden fortan überall ohne jegliche Erklärung verstanden.“
Das Buch von Alice Bota ist mehr als eine Beschreibung der drei Frauen, die für einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Welt zu haben schienen. Es verdeutlicht die starke Symbolkraft dieser weiblichen Proteste. Dabei bestand ein Großteil der Wählerschaft Lukaschenkos lange aus Frauen: „Die Mehrheit der Frauen hat in der Vergangenheit Alexander Lukaschenko unterstützt“, so Bota in dem Buch.
Die Gründe dafür sind schwer zu erklären. „Es herrscht eine merkwürdige Beziehung zwischen Alexander Lukaschenko und den belarussischen Frauen. Sie erinnert an eine unheilvolle Ehe: Er beleidigt, sie beschwichtigt. Er erniedrigt, sie erträgt. Könnte ja alles noch viel schlimmer sein. So geht das seit vielen Jahren.“ Die große Veränderung brachte die Corona-Pandemie und Lukaschenkos Politik des Leugnens. „Nun sind es die Ärztinnen und Pflegerinnen, die Ehefrauen und Mütter, die spüren, welche Folgen die staatliche Untätigkeit hat“, berichtet Bota. So wurde aus Fürsorge politische Sprengkraft. (dpa)
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