Ein Jahr „Ampel“ in Deutschland
Berlin (dpa) - Vor einem Jahr endete in Deutschland eine Ära. Am 8. Dezember 2021 wählte der Bundestag den Sozialdemokraten Olaf Scholz zum Nachfolger von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich nach 16 Jahren als Regierungschefin aus der Politik zurückzog.
Vorangegangen waren der knappe Sieg der SPD bei der Parlamentswahl im September und die historische Schlappe von Merkels Christdemokraten mit ihrem glücklosen Kanzlerkandidaten Armin Laschet.
Mit einem auf Bundesebene noch nicht erprobten Dreierbündnis und dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“ ging Scholz an den Start. Doch wenn der Bundestag jetzt neu gewählt würde, dann würde die Koalition aus SPD, Grünen und Liberalen - nach den Parteifarben Rot, Gelb und Grün „Ampel“ genannt - beim Wähler durchfallen. Die drei Parteien zusammen kommen in Umfragen nur noch auf rund 45 Prozent, die SPD alleine auf höchstens 20. Mit Abstand stärkste Kraft sind die Christdemokraten unter ihrem neuen Vorsitzenden Friedrich Merz mit rund 28 Prozent.
Eine Inflation um zehn Prozent und die Angst vieler Menschen, ihre Gasrechnung nicht mehr bezahlen zu können - damit hätten der Kanzler und seine Stellvertreter Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) vor einem Jahr sicher nicht gerechnet. Doch dann kam der Krieg in Osteuropa und mit ihm eine Bewährungsprobe. Drei Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine verkündete Scholz am 27. Februar im Bundestag die „Zeitenwende“ und eine drastische Steigerung des deutschen Wehretats. Mit verschiedenen Programmen versucht die Regierung seither, die Auswirkungen steigender Energiepreise nach dem Wegfall der russischen Gaslieferungen abzufedern.
„Die Erwartungen an Olaf Scholz als Kanzler haben sich nicht so erfüllt. Es gab weiter Corona und neue Krisen. Die Problemhorizonte in Deutschland waren andere als man sich gedacht hatte“, sagt der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer der Deutschen Presse-Agentur. Im Kampf gegen das Coronavirus war die Ampel in ihren ersten Monaten wenig erfolgreich. Impfziele wurden verfehlt, die von Scholz und Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gewünschte Impfpflicht ab 18 Jahren kam nicht zustande.
Von ihrem Programm konnte die „Ampel“ noch nicht all zu viel umsetzen. Der gesetzliche Mindestlohn wurde zwar zum 1. Oktober von 10,45 Euro auf 12 Euro pro Stunde erhöht. Aber beim Bürgergeld, das die bisherigen Hartz-IV-Hilfen für Langzeitarbeitslose ersetzt, musste die „Ampel“ deutliche Zugeständnisse an die christdemokratische Opposition machen, die das ursprüngliche Projekt im Bundesrat (Länderkammer) gestoppt hatte. Ein Gesetzespaket, das Planungsverfahren zum Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen soll, hängt noch in der Abstimmung innerhalb der Regierung.
„Die Bundesregierung tut sich offensichtlich schwer und wirkt durch eine fast beispiellose Problemkonstellation überfordert“, sagte der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ). Scholz' ganze Autorität war im Oktober beim Thema Atomenergie gefordert. Er machte von seiner Richtlinienkompetenz als Kanzler Gebrauch, um die zum Jahresende geplante Abschaltung der letzten drei deutschen Kernkraftwerke angesichts im Winter drohender Blackouts bis zum Frühjahr hinauszuschieben.
Sorgen macht sich derweil die FDP mit Blick auf einige Umfragen, die die Partei deutschlandweit nahe der Fünf-Prozent-Hürde sehen. Anscheinend finden viele Menschen aus der klassischen Klientel der marktliberalen Partei das Bündnis mit Mitte-Links problematisch. Dass die Koalition zerbricht und bei der „Ampel“ vorzeitig das Licht ausgeht, glaubt Politologe Neugebauer aber nicht: „Wer diese Koalition verlässt, wird vom Wähler abgestraft. Die Ampel wird schon allein deshalb halten.“
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