Von Juan E. Alemann
Wirtschaftsminister Martín Guzmán sprach in der Vorwoche vor einer Gruppe bedeutender Unternehmer im Cicyp (Consejo interamericano de comercio y producción), und bemühte sich dabei, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Das ist ihm in gewisser Hinsicht auch gelungen. Danach erklärte er, es gehe ihm um “Rationalität”. Damit antwortete er Cristina, den Kirchneristen und vielen anderen, die ihm eine ideologische Einstellung zuschreiben, die sie als Neoliberalismus bezeichnen. Doch außerdem bezieht sich diese Rationalität auch auf die Notwendigkeit, das Haushaltsdefizit drastisch verringern, und zwar nicht, weil es der internationale Währungsfonds fordert, sondern weil es keine Finanzierung gibt. Und dann kommt noch viel anderes zur Rationalität hinzu. Argentinien hat, nicht nur unter dieser Regierung, eine Neigung zum Irrationalen, und wer für Rationalität eintritt, hat es nicht leicht.
Im Sinn der Rationalität muss als erstes hervorgehoben werden, dass das Defizit der Staatsfinanzen mit oder ohne IWF auf Dauer untragbar ist. Wir wiederholen einmal mehr: das Defizit der Staatsfinanzen, nicht nur das primäre, sondern das Gesamtdefizit einschließlich Zinsen auf die Staatsschuld, kann nur mit zusätzlicher Verschuldung oder mit Geldschöpfung gedeckt werden. Andere Möglichkeiten gibt es nicht. Die Neuverschuldung beschränkt sich gegenwärtig auf Kredite der Weltbank, der BID u.a. internationaler Finanzinstitute und Förderungsbanken, zu denen eventuell noch Kredite für Finanzierung von Kapitalgüterlieferungen an den Staat oder an Staatsunternehmen hinzukommen.
Die Verschuldung über den Finanzmarkt ist zunächst, und wohl für einige Jahre, gesperrt. Und die Unterbringung von Staatstiteln bei den Banken ist kaum noch möglich, es sei denn die Kreditfähigkeit der Banken wird fast ganz auf den Staat statt auf die Privatwirtschaft gelenkt. Nachdem der Bankkredit für die Privatwirtschaft ohnehin schon so gering ist, dass die Unternehmen große Schwierigkeiten haben, ihr Arbeitskapital zu finanzieren, würde eine weitere Verringerung sie finanziell ersticken und stark rezessiv wirken. All das bedeutet, dass der Staat dann keine andere Möglichkeit hat, als sich über Geldschöpfung zu finanzieren. Doch diese ist auch begrenzt, und zwar nicht nur, weil es im Abkommen mit dem IWF so steht, sondern weil die hohe Geldschöpfung die Inflation antreibt, wobei kein Zweifel besteht, dass die Inflationsrate stark verringert werden muss.
Der Fonds besteht auf einer strukturellen Verringerung der Staatsausgaben, aber Guzmán scheut die Konflikte, mit denen dies verbunden ist, und denkt zunächst an zusätzliche Einnahmen, wie die Besteuerung “unerwarteter” Gewinne. Doch dies hat keinen vernünftigen Sinn, ist steuertechnisch sehr kompliziert, und kommt im Kongress nicht durch, weil die Opposition, die in der Deputiertenkammer die Mehrheit hat, vereinbart hat, keine Steuererhöhungen zu verfügen.
Ebenfalls will Guzmán den Erlös der provinziellen Immobiliensteuer durch höhere Fiskalwerte erhöhen. Das wirkt sich auch direkt auf die nationale Vermögenssteuer aus. Die Fiskalwerte der Immobilien, besonders den landwirtschaftlichen, sind im Verhältnis zum Marktwert stark zurückgeblieben und liegen gelegentlich unter 20% dieses Wertes. Unter der Militärregierung hatte das nationale Schatzamt den Provinzen die Anweisung erteilt, sie auf 70% des Marktwertes festzusetzen. Aber dies wurde nur ausnahmsweise eingehalten, und faktisch wurde bis zu 50% erreicht. Das Problem besteht darin, dass die Fiskalwerte von den Provinzen festgesetzt werden und die Gouverneure keinen Konflikt mit den lokalen Landbesitzer haben wollen.
Die Verringerung des Staatsdefizites durch Inflation
Wenn das Staatsdefizit nicht finanziert werden kann, dann muss es geringer sein. Und wenn dies nicht “rationell” geschieht, also durch reale Senkung der Staatsausgaben oder höhere echte Staatseinnahmen, dann erfolgt es über eine noch viel höhere Inflation, die die Staatsausgaben real senkt, was sich an erster Stelle auf Gehälter der öffentlichen Angestellten, sowie Pensionäre und Hinterbliebenenrentner, und auch auf soziale Subventionen bezieht. Mit einem nominell überhöhten, aber real viel niedrigeren Defizit, kann die Rechnung aufgehen, ohne überhöhte Staatsverschuldung noch Geldschöpfung. Normalerweise geht man davon aus, dass die Defizitverringerung die Inflation senkt. Paradoxerweise senkt auch eine hohe Inflation das reale Defizit.
Die Rationalität des Ministers umfasst auch Buchungstricks, was eigentlich nicht in dieses Konzept passt. Dass er im 1. Quartal 2022 ein Defizit erreicht hat, das weit unter dem liegt, das im IWF-Abkommen steht, ist nur mit einem unzulässigen Trick gelungen. Der Staat hatte einen Bestand an indexierten Staatspapieren, und dabei wurde der Inflationsgewinn als laufende Einnahme gebucht, obwohl es sich nur um die Erhaltung des realen Wertes handelt. Doch im 2. Quartal, dessen Revision durch den Fonds schon begonnen hat, geht die Rechnung auch mit Mogeleien nicht auf. Wie verlautet, besteht der für die westliche Hemisphäre, also auch für Argentinien, zuständige Fondsbeamte Ilan Goldfajn (der für seine harte Haltung bekannt ist) darauf, dass strukturelle Maßnahmen getroffen werden, um die Ausgaben zu verringern. Kommt jetzt die Stunde der Wahrheit?
Guzmán bemüht sich darum, dass keine zusätzlichen Ausgaben geschaffen werden. Aber Cristina und ihre Mannschaft gehen genau in die entgegengesetzte Richtung. Und auch Präsident Fernández unterstützt seinen Minister, wenn es um schwierige Entscheidungen geht, nur halbherzig. Hier kommt kurzfristig ein Megakonflikt auf.
Die tiefere Bedeutung der Rationalität
Halten wir fest, was Rationalität in dieser Schicksalsstunde Argentiniens wirklich bedeutet. Es umfasst die Schließung des Kohlenbergwerkes Río Turbio, das überhaupt keinen vernünftigen Sinn hat und stark zum Defizit beiträgt, dann auch die Verringerung der aufgeblähten Staatsstruktur, mit ihren vielen unnötigen Ministerien, Staatssekretariaten, Unterstaatssekretariaten und sinnlosen Ämtern, dann auch mäßige Gehaltserhöhungen für Staatsangestellte (unter denen des privaten Bereiches), drastische Verringerung der Subventionen für Strom und Gas, Durchkämmung der Staatsinvestitionen, die gegenwärtig durchgeführt werden, mit Festsetzung von Prioritäten und Stilllegung von einigen frisch begonnenen Investitionen, u.s.w. All das erfordert nicht nur schwierige Entscheidungen, sondern auch viel Kleinarbeit.
Rationalität fordert politische Entscheidungen, die Cristina nicht treffen will, und bei denen Präsident Alberto Fernández zaudert, weil ihm der Mut und die Überzeugung fehlen. Cristina hat klar verstanden, was das Abkommen mit dem IWF bedeutet. Das dürften ihr ihre Berater auf dem Gebiet der Wirtschaft erklärt haben. Ganz scheint sie nicht verstanden zu haben, um was es geht, nämlich darum, dass Argentinien sich nur ein sehr beschränktes Haushaltsdefizit erlauben kann. Es geht ihr jetzt nicht um die Zahlungen an den Fonds, die ohnehin auf die nächste Regierung verschoben worden sind, sondern um die Maßnahmen, die zur Verringerung des Defizites unerlässlich sind, die wir oben aufgeführt haben.
Cristina und der IWF
Cristina unterschätzt offensichtlich die Bedeutung eines Megakonfiktes mit dem IWF, der unmittelbar bevorsteht, wenn nichts getan wird, um die Staatsausgaben zu verringern. Im Kirchnerismus meinen einflussreiche Politiker, dass der Fonds schließlich nachgibt, weil er sich keinen Default von Argentinien leisten kann. Mag sein, dass der Fonds auch jetzt wieder nachgibt, wie er es schon bei der Verhandlung mit Guzmán getan hat. Es ist nicht so, wie die Kirchneristen es darstellen, dass Guzmán die Forderungen passiv angenommen hat, ohne sie zu diskutieren. Tatsache ist, dass der Fonds Zahlungen von Amortisationen des Kredites weit hinausgeschoben hat, zusätzliche Mittel bereitgestellt hat, und unmittelbar wenig fordert, womit der Abschluss des Abkommens erleichtert wurde. Dennoch kam das neue Abkommen im Parlament nur dank der Unterstützung der Opposition durch.
Das Lohnproblem
Abgesehen von den Staatsfinanzen stellt sich jetzt ein Problem mit den Lohnerhöhungen. Die Bankangestellten, die Handelsangestellten und mehrere andere haben schon um die 60% erhalten, die jedoch nicht für 12 Monate gelten, wie es bei Arbeitsverträgen üblich ist. Noch in diesem Jahr soll neu verhandelt werden, und dabei kommt es bestimmt zu einem Zusatz von mindestens 10%, Hugo Moyano, von den Lastwagenfahrern, fordert schon 80%. Und überall kommen dann noch zusätzliche Zahlungen hinzu. Die Lohnentwicklung ist aus den Fugen geraten. Cristina hat dem Generalsekretär der Gewerkschaft der Bankangestellten, Sergio Palazzo, der auch Deputierter für die Regierungskoalition ist, für seine 60% gratuliert, und Alberto Fernández hat schon vorher darauf hingewiesen, dass der in Vorjahren verlorene Reallohn aufgeholt werden müsse. Diese Unverantwortlichkeit wird der Präsident teuer bezahlen.
Guzmán, und allgemein auch die Wirtschaftswelt, machen sich Sorgen über diese Lohnerhöhungen, die ein schlechtes Ende verheißen. Als der Spitzenverband der Gewerkschaften, die CGT, im Juli 1975 einen Generalstreik anordnete, der das Land stillgelegt hat, wurde die damalige Präsidentin María Estela Peron, genannt Isabelita, geschwächt, umso mehr, als sie auch ihren engen Mitarbeiter José López Rega opfern musste, der als Sozialminister und Privatsekretär zurücktreten und das Land verlassen musste. López Rega war geistig leicht verstört, aber er sorgte für einen harten Kurs in der Regierung, und widersetzte sich energisch sowohl den Terroristen wie den Gewerkschaftern. Ohne ihn war Isabel verloren. Es folgen Lohnerhöhungen von einer Größenordnung von ca. 50%, eine nach der anderen, die Inflation wurde bald dreistellig und erreichte im März 1976 50% im Monat, was Hyperinflation entspricht. Jetzt geht es in die gleiche Richtung. Achtung!
Präsident Fernández ist sich bewusst geworden (hat es ihm Guzmán erklärt?), dass dies ein schlimmes Ende nimmt. Er müsste jetzt stark auf die Bremse traten, also praktisch verfügen, dass die Löhne bis auf weiteres eingefroren werden, und Lohnabkommen von über 60% nicht allgemeingültig erklären (was als “homologación” bezeichnet wird). Er müsste nicht mehr von Reallohn reden, sondern von Inflation. Es handelt sich nicht darum, dass die Löhne die Inflation aufholen, sondern dass die Inflationsrate sinkt.
Das ungelöste Zahlungsbilanzproblem
Über die Problematik der Zahlungsbilanz hat die Regierung auch kein klares Konzept. Sie beschränkt sich vorerst darauf, Importe zu beschränken. Was Exporte betrifft, so will sie sie nicht noch weiter beschränken, nachdem sie schon durch einen künstlich niedrigen Wechselkurs gehemmt werden. Aber ein echtes und integrales Konzept der Exportförderung besteht nicht. Und bei der Beschränkung der Importe handelt die Regierung ohne ein Gesamtkonzept. Es müsste einmal klar bestimmt werden, bei welchen Produkten der Import frei ist, an erster Stelle Teilen, die für einen lokalen Produktionsprozess notwendig sind, und dann auch Rohstoffen, die nicht im Land erzeugt werden. Bei Konsumgütern, die mit lokal erzeugten Produkten konkurrieren, müsste der Import stark beschränkt, also praktisch verboten, werden. Der Import von Kapitalgütern und auch von Brennstoffen muss frei sein. Es ist nicht einfach, diese Prinzipien in konkreten Normen zu verankern. Es müssten gemischte Kommissionen, mit Branchenvertretern, gebildet werden, um die Einzelfälle zu klären.
Hinzu kommt noch das Problem der Kapitalbilanz, das bei der bestehenden Devisenbewirtschaftung keine Lösung hat. Aber es muss gelöst werden, damit Investitionen möglich sind, die mit Auslandskapital (von Ausländern und auch von Personen und Unternehmen mit Sitz in Argentinien), möglich sind. Die einzig mögliche Lösung ist die Aufteilung des Devisenmarktes, mit einem offiziellen Markt, der grundsätzlich für den Außenhandel gilt, und einem freien, der für Kapitalüberweisungen in beide Richtungen, für Tourismus und eventuell einige andere Transaktionen gilt. Das müsste zunächst von einer Weißwaschung schwarzer Auslandsvermögen, die nach Argentinien zurückkehren, begleitet werden, damit dieser freier Markt ein ausreichendes Angebot aufweist und somit die Marge zum offiziellen Kurs nicht so übertrieben wie jetzt ist. Mit einer Marge von 20% bis 30% kann man leben, mit einer von über 80% nicht.
Cristina sprach in ihrer Chaco-Rede von Bimonetarismus, ohne das Konzept genau zu verstehen. Bimonetarismus bedeutet, dass der Dollar auch als interne Währung eingesetzt wird, dass die Werte von Immobilien u.a. Gütern in Dollar bemessen werden, dass in Dollar gespart wird und auch Dollarkredite erteilt werden, und dass Staatstitel in Dollar (oder in Pesos, die an den Dollarkurs gebunden sind) lokal untergebracht werden. Doch Cristina interpretierte den Bimonetarismus nur dahingehend, dass die internen Preise sich an den Dollarkurs halten, und somit unabhängig von der Geldschöpfung, den Kostenerhöhungen und der effektiven Wirkung des Wechselkurses auf die internen Preise (was nur Exportgüter und importierte Güter betrifft) steigen. Gewiss hat der Dollarkurs in Argentinien eine große Wirkung, was in einem Land mit chronischer Inflation nicht anders sein kann. Aber den Kurs als einzige Inflationsursache hinzustellen ist bei Weitem übertrieben. Die Preise steigen zunächst wegen der Geldschöpfung und den Kostenerhöhungen, an erster Stelle Lohnerhöhungen, die auf die Preise abgewälzt werden. Wenn man das Inflationsproblem nicht in seiner ganzen Komplexität begreift, kann man die Inflation auch nicht wirksam bekämpfen.
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