Europäische Zeitungen zum Tod Gorbatschows
"Gorbatschow ist tot. Nun gilt es für Europa, insbesondere für Deutschland, sein historisches Erbe hochzuhalten. Der frühere Sowjetführer bekam zu Recht 1990 den Friedensnobelpreis mit der Begründung, er habe daran mitgewirkt, dass „die Konfrontation der Blöcke“ zwischen Ost und West durch Verhandlungen ersetzt worden sei und „alte europäische Nationalstaaten ihre Freiheit wiedergewonnen“ hätten. Das war nur wenige Wochen nach der deutschen Wiedervereinigung, die wie auch die friedliche Revolution und der Mauerfall ohne Gorbatschow nicht möglich gewesen wäre. Danach lief vieles falsch und schon mal gar nicht friedlich wie beispielsweise der Unabhängigkeitskampf Litauens gegenüber Moskau. Gorbatschows großer Verdienst aber bleibt, dass er Europa 30 Jahre Frieden sowie den osteuropäischen Ländern Demokratie, Freiheit und wachsenden Wohlstand beschert hat. Nur leider konnte er diese Werte in seinem eigenen Land nicht verankern. Dafür gab er aus guten Gründen dem Westen Mitschuld."
Frankfurter Rundschau
"Die Geschichte liebt die ironischen Fügungen. Für Michail Gorbatschow hat sie sich eine ganz besondere Pointe ausgedacht: Der letzte Chef der Sowjetunion und Architekt der Zeitenwende 1989 schließt just im Jahr der Zeitenwende 2022 für immer die Augen. Gerade so, als habe der große Reformer und Demokrat die Zerstörung seines Lebenswerks durch seinen Nach-Nachfolger nicht mehr länger mit ansehen wollen. Niemand auf der Welt, auch nicht in der russischen Heimat, trauert mehr als die Deutschen. Sie behalten ihren „Gorbi“ zu Recht als großen Freund in Erinnerung, der ihnen die 45 Jahre zuvor verlorene Einheit des Vaterlands zurückgab. Doch auch in diese Erinnerung mischt sich ein bitterer Beigeschmack: Gerade die bedingungslose Liebe zu Gorbatschow begründete in Deutschland ein allzu romantisches Russland-Bild, das viele Bundesbürger und auch große Teile der Politik blind machte für das, was nach Gorbatschow und Jelzin in Moskau geschah und schließlich in die Katastrophe des Ukrainekriegs mündete."
Münchner Merkur
"Michail Gorbatschow, der 30 Jahre vor seinem Tod sein Amt im Kreml niederlegte, musste sowohl mit Lob als auch mit Schmähung umgehen. Ein Großteil des Lobes galt seiner Außenpolitik, mit der er dazu beitrug, dass sich die damaligen beiden Supermächte im Rahmen einer Doktrin der nuklearen Abschreckung nicht weiter auf den Abgrund zubewegten und die zum Zusammenbruch der politischen Abhängigkeit Mittel- und Osteuropas von der Sowjetunion führte - einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands. Dieser Außenpolitik wurde gleichermaßen vorgeworfen, den Verlust des sowjetischen Einflussbereichs in Kauf genommen und quasi die Voraussetzungen für die Osterweiterung der Nato geschaffen zu haben."
Kommersant (Moskau)
Gorbatschow war ein Staatsmann, "der Frieden mit dem Westen schloss und den Preis dafür zahlte. Nur wenige Staatsmänner des 20. Jahrhunderts hatten einen solchen Einfluss im In- und Ausland, und nur wenige haben ein solches Vermächtnis hinterlassen. (...) Michail Gorbatschow, der letzte sowjetische Führer, wird im Westen als der Mann gefeiert, der den Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus herbeiführte und den Kalten Krieg beendete."
The Times (London)
"Gorbatschow ließ den Geist aus der Flasche, doch die auf diese Weise entfesselten Kräfte fegten auch ihn hinweg. (...) In seiner Heimat verbindet ein beträchtlicher Teil der Menschen mit seinem Namen den Zusammenbruch der Sowjetunion und das darauffolgende Chaos. Doch aufgrund seines Lebenswegs und seiner Taten respektiert ihn die Welt bis heute als Persönlichkeit (...)."
Magyar Nemzet (Budapest)
"Der im Westen verehrte Michail Gorbatschow lebte in Russland seit seinem Ausscheiden aus der Politik im Jahr 1991 fast anonym. Der Gipfel des Paradoxen: Der Architekt der Ost-West-Annäherung begeisterte die Massen in Europa, während er in seiner Heimat Gleichgültigkeit hervorrief."
Le Monde (Paris)
"Gorbatschow war ein tragischer Held, der kluge Entscheidungen traf, die aber gleichzeitig seinen Handlungsspielraum als Herrscher einschränkten. Er sprach mehrmals über seine Entscheidung, den sowjetischen Truppen nicht zu befehlen, den Fall der Berliner Mauer aufzuhalten - oder zu versuchen, ihn aufzuhalten."
El Mundo (Madrid)
"Er ein tragischer Held, ein Riese ohne Frieden, ein Kommunist, der den Kommunismus begrub, indem er ihn zu retten versuchte, ein Patriot, der trotz bester Absichten das Grab bereitete für den ersten sozialistischen Staat der Geschichte. (...), der Mann, der wie Ikarus glaubte, sich der Sonne nähern zu können, dabei aber sich selbst und sein Werk zerstörte, das er doch erhalten wollte."
Corriere della Sera (Mailand)
"Wenn es so ist, wie der große israelische Autor Amos Oz einmal sagte, dass man ein Verräter werden - oder sein - muss, um die Welt zu verändern, dann war Michail Gorbatschow der größte von allen, zumindest in den letzten 80 Jahren."
La Stampa (Turin)
"Michail Gorbatschow war ein Kind des Systems. Er war ein überzeugter Anhänger des Kommunismus, den er eigentlich nur menschlicher gestalten wollte. (...) Vermutlich hat er sich selbst geärgert, dass es ihm nicht gelungen ist, die Einheit der UdSSR zu erhalten. Obwohl im Nachhinein klar ist, dass er dazu keine Möglichkeit gehabt hätte. Vielleicht, wenn er beschlossen hätte, alle Proteste - von Litauen bis Kasachstan - in einem Meer von Blut zu ertränken. Aber das konnte er nicht, weil er glaubte, dass der Sozialismus ein "menschliches Antlitz" haben soll und nicht nur Militärstiefel."
Rzeczpospolita (Warschau)
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