top of page
  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

„Nie wieder Diktatur“

Actualizado: 26 jun 2020

Der Bürgerrechtler und Politiker Rainer Eppelmann im AT-Gespräch

Rainer Eppelmann
Rainer Eppelmann während des Interviews. (Foto: mc)

Buenos Aires (AT) - Der evangelische Pastor Rainer Eppelmann gehörte zu den führenden Köpfen der friedlichen Revolution in der DDR. In den letzten Monaten vor der Wiedervereinigung bekleidete er das Amt des Ministers für Abrüstung und Verteidigung. Auch im vereinten Deutschland engagierte er sich in verschiedenen politischen Ämtern. Der Berliner saß bis 2005 für die CDU im Bundestag, wo er zum Vorsitzenden der beiden Enquete-Kommissionen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gewählt wurde. Seit 1998 ist er Vorstandsvorsitzender einer Bundesstiftung, die sich der gleichen Aufgabe widmet. In Buenos Aires nahm der 76-Jährige an einer Konferenz über totalitäre Vergangenheit und Herausforderungen für die gegenwärtigen Demokratien teil. Gegenüber dem Tageblatt erläutert er die Hintergründe.


Sehr geehrter Herr Eppelmann, erzählen Sie uns von der Konferenz in Buenos Aires. Was ist Ihr Eindruck?

Die Konferenz ist Ausdruck des Bemühens, eine internationale Verantwortungsgemeinschaft herzustellen. Es gibt weltweit eine ganze Reihe von Staaten, die Brüche in ihrer eigenen Geschichte hatten. Von der Demokratie zu Diktatur oder andersherum. Es hilft uns gegenseitig sehr, uns bei der Erinnerungsarbeit auszutauschen. Es geht um Fragen wie: Wie geht man mit Tätern und Opfern um? Wie wächst die Gesellschaft wieder zusammen? Warum ist es zu bestimmten Entwicklungen gekommen? Wie kommt es zu einer Diktatur? Argentinien müsste eigentlich Lehrmeister sein, weil man hier so oft diese Erfahrung gemacht hat.


Haben Sie noch andere Begegnungen bei Ihrem Besuch in Argentinien gehabt?

Ich bin in einer deutschsprachigen Schule (Deutsche Schule Ballester, Anm. d. Red.) gewesen. Etwa 30 Schüler, die alle nur das Argentinien von heute kennen. Von der Staatsverfassung her eine Demokratie. Wenn sie überhaupt eine Ahnung von der diktatorischen Vergangenheit ihres Landes haben, dann wissen sie das vielleicht von ihren Eltern oder ihren Großeltern. Deswegen bin ich in die Schule gegangen, weil mir wichtig ist, diejenigen, die eine Diktatur selber nicht erfahren mussten, zu sensibilisieren, damit sie alles ihnen Mögliche tun, dass ihr Land nicht wieder eine Diktatur wird.


Sehen Sie Parallelen zwischen der Militärdiktatur in Argentinien und der SED-Diktatur?

Oft geht das Ende einer Diktatur mit einem ökonomischen Niedergang einher. Da gab es Parallelen zwischen Argentinien und der DDR. In Argentinien war die politisch-wirtschaftliche Situation so schlimm, dass die Militärs froh waren, die Verantwortung wieder abgeben zu können. In der DDR lag eine Chance zur Demokratie darin, dass sowohl die DDR als auch die Sowjetunion ökonomisch am Ende waren. Die DDR war für die Sowjetunion zu einer finanziellen Belastung geworden, und man war froh, sie loszuwerden. Da konnte nur die Bundesrepublik helfen. Ökonomie spielt eine sehr starke Rolle. Ein Mensch denkt nicht nur ans Wahlrecht und an freie Meinungsäußerung. Er denkt doch auch daran, ob er Geld und Arbeit hat. Das ist auch eine große Herausforderung für das heutige Argentinien. Wenn es nicht gelingt, das Drittel der Bevölkerung, das in Armut lebt, aus dieser herauszuführen, ergibt sich eine große Belastung für die Gesamtbevölkerung.


Reden wir über Ihre Zeit in der DDR: Wie gerieten Sie in Konflikt zur Staatsmacht?

Es begann mit den Vorstellungen meiner Eltern. Ich durfte nicht in die Nachwuchsorganisationen der SED. Statt Jugendweihe machte ich Konfirmation. Das führte dazu, dass ich in der DDR kein Abitur machen konnte. Daraufhin schickten mich meine Eltern auf eine Schule in West-Berlin. Doch dann kam 1961 der Mauerbau dazwischen, und ich kam nicht mehr von meinem Zuhause zur Schule. Von da fing ich an, ein politisch interessierter Mensch zu werden. Ich begriff: Die da oben haben massiven Einfluss auf die Bedingungen meines Lebens. Ich wollte mitreden können, doch es ging in der DDR darum, dass ich Dargebotenes nacherzählen konnte. Mein Glück waren die drei Jahre Schule in West-Berlin. Dort habe ich gelernt, Fragen zu stellen und mir eine eigene Meinung zu bilden. Das war das Glück meines Lebens. Ich war zwar nun eingemauert, aber mit etwas, was ich in der DDR so nie gelernt hätte. Von da an war ich ein anderer Mensch.


Wie entwickelte sich Ihr Leben in der DDR?

Ich war zunächst Hilfsarbeiter und Maurer. Dann war ich acht Monate als Wehrdienstverweigerer im Knast. Ich war der Meinung, dass man nach Auschwitz keine Knarre mehr in die Hand nehmen könne. Außerdem hätte ich in Form eines Eides einem anderen Menschen versprechen müssen, dass ich alles mache, was er will. Die ersten Tage im Knast waren schlimm. Aber als ich dann nach acht Monaten wieder raus kam, war ich noch mal selbstbewusster und angstfreier. Weil ich mir - vielleicht ein bisschen naiv - dachte: Das Schlimmste, was Dir in der DDR passieren kann, hast Du hinter Dir. Aber Deine Überzeugung ist Dir so viel wert, dass Du sie nicht jedem auf dem Altar opferst. Diese Haltung habe ich mir bewahrt. Später wurde ich auf dem zweiten Bildungsweg Pfarrer. Das war der freieste Beruf, den man in der DDR haben konnte. Denn ich wurde von der Kirche gezahlt. Ich konnte davon ausgehen, dass mein Gehalt weiter gezahlt würde, selbst wenn ich wieder in den Knast müsste. Nicht unwichtig, schließlich war ich verheiratet und hatte vier Kinder.


Welche Formen des Widerstands wählten Sie?

Grundbedingung war gewaltfrei, und es musste mit der Lehre Jesu vereinbar sein. Das bedeutete im Normalfall für mich: Gespräche mit Mitgliedern in meiner Gemeinde. Ich habe immer Unterstützer in der eigenen Gemeinde gehabt, auch in den Momenten der schlimmsten Konfrontation mit der Staatsmacht. Das, was mich DDR-weit bekannt gemacht hat, waren die sogenannten Blues-Messen. Kirche war in der DDR ja der weltanschauliche Gegner der Machthaber. Deren Ziel war der religionslose Staat - und sie hatten damit auch Erfolg: Am Ende war die DDR entchristianisiert. Die verbleibenden Christen waren ältere Menschen. Andererseits gilt: Nie war evangelische Kirche in der DDR den Hoffnungen, Wünschen und Erwartungen der Menschen näher als in der Zeit von 1985 bis 1990.


Was genau waren Blues-Messen?

Es waren Jugendgottesdienste fast ohne Liturgie und mit Musik, die die Jugendlichen mögen. Das erste Mal kamen 150 Leute in die Samariterkirche in Friedrichshain. Beim zweiten Mal waren es schon 300, dann 600. Sie kamen aus der ganzen DDR. Die Jugendlichen konnten erzählen, was für Wünsche sie haben, wovor sie Angst haben. So wurde es zu einem Gottesdienst der Befreiung. Es hat ungeheuer Ärger gegeben. Argument: Es seien keine Gottesdienste. Es gab massiven Druck von oben. Doch die Blues-Messen gingen weiter. Es kamen zwischen 8000 und 9000 Teilnehmer. Durch mein Engagement lernte ich auch Leute wie Robert Havemann (Wissenschaftler und Regimekritiker, Anm. d. Red.) kennen. Wir haben uns angefreundet und 1982 den Berliner Appell „Frieden schaffen ohne Waffen“ verfasst. Es war wie eine Initialzündung. Überall in der DDR entstanden Friedenskreise.


Glaubten Sie in den 80er Jahren noch daran, dass die Wiedervereinigung möglich sein könnte?

Nein. Es schien unmöglich. Alleine schon durch die Präsenz der 250.000 sowjetischen Soldaten - mit Angehörigen eine halbe Million. Aus welchem Grund sollten die wieder zurückgehen? Die hatten viele Millionen Menschenleben geopfert, um an der Elbe zu stehen. Politisch träumten sie davon, am Atlantik zu stehen. Es sollte ja eine Weltrevolution sein. Selbst Gorbatschow konnte sich bei seinem Amtsantritt 1985 nicht vorstellen, die DDR zu verlassen. Ich selbst wollte damals nur eine freiere, buntere und offenere DDR. Dass es mal zu einer Wiedervereinigung kommen könnte, habe ich mir nicht vorgestellt, weil ich mir dachte: Das wird auf einer ganz anderen Ebene entschieden.


Wie haben Sie den 9. November 1989 erlebt?

Ich erlebte den Abend an der Bösebrücke (Bornholmer Straße). Es war der Grenzübergang, der als erster aufging - und zwar auf gewaltlose Weise. Das Wort des Abends war „Wahnsinn“. Das, was man sich fast 30 Jahre lang gewünscht und erhofft oder wovor man Angst hatte, war auf einmal da - ohne jede Vorbereitung. Wahnsinn sagt Alles und gar Nichts. Ich selbst bin damals aber nicht gleich rüber. Was sollten wir dort in dem Moment? Sich von irgendeinem Wessi ein Bier ausgeben lassen? Ich blieb eine Stunde lang stehen und habe nur geguckt. Habe den Leuten ins Gesicht geschaut. Habe mich gefragt, was mit mir passiert. Habe gesehen, wie sich wildfremde Menschen in die Arme fielen. Und dann sind wir kurz vor Mitternacht nach Hause gegangen. Und mir war klar: Ab sofort würde mein Leben völlig anders verlaufen, als es seit dem 13. August 1961 gewesen ist.


Sie sind Pazifist und wurden nach der Wende DDR-Minister für Abrüstung und Verteidigung. Wie kam es, dass Sie im geeinten Deutschland Ihre politische Heimat in der CDU fanden?

Die CDU war zunächst gar nicht meine Vorstellung. Doch die Situation war folgende: Für den Wahlkampf fehlte dem Demokratischen Aufbruch, dem ich angehörte, alles. Wir waren dringend darauf angewiesen, einen Verbündeten zu finden. In dieser Situation nahm unser damaliger Vorsitzender Wolfgang Schnur, der später als Stasi-Spitzel enttarnt wurde, Kontakte zur CDU (West) auf. Nach den Wahlen tauchte die Frage auf: Wer bestimmt jetzt das Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands? Nur die Pfälzer und die Nordrhein-Westfalen? Oder wäre es nicht gut, ein paar Ostdeutsche dabei zu haben, denen man zumindest zuhört? Wir hatten meiner Meinung nach die Aufgabe, den weiteren Prozess mit zu begleiten. Die einzige Möglichkeit, die sich mir dazu real anbot, war, mit den anderen DA-Mitgliedern in der CDU aufzugehen. Als DA hätten wir sicher keine Chance gehabt, in den gesamtdeutschen Bundestag zu gelangen.

Sie gehörten zu den profiliertesten politischen Köpfen der demokratischen Umgestaltung der DDR. Nach der Wiedervereinigung waren Sie dann aber nicht mehr so präsent in den Medien.

Das ist nicht mein Problem. Es war ja nicht mein Ziel, berühmt zu werden. Ich habe das, was ich gemacht habe, getan, weil es mir wichtig war und mich herausgefordert hat. Ich bin ergebnisorientiert. Wenn ich mir überlege, was ich bis 1985 gedacht habe: Ich war im Knast gewesen. Meine Kinder waren alleine schon dadurch gestraft, weil sie meinen Nachnamen hatten. Ein Großteil der Wünsche, die ich damals hatte, sind heute Wirklichkeit. Das heißt nicht, dass es keine Probleme mehr gäbe. Aber ich kann mich heute mit jedermann unterhalten, ohne Angst zu haben, bespitzelt zu werden.


Wie erklären Sie sich, dass gerade in den ostdeutschen Ländern rechte Parteien so großen Erfolg haben?

Der Aufstieg der rechten Parteien fängt mit einem Grad an Unzufriedenheit an. Manche denken offenbar: Wir haben seit der Wiedervereinigung eine ganze Menge geschafft - und nun kommen andere, die sich dafür nicht anstrengen mussten und bekommen dies praktisch zum Nulltarif. Was mich an dieser Sichtweise besonders traurig macht, ist, dass von den 17 Millionen ehemaliger DDR-Bürger viele jahrelang das Gleiche geträumt haben wie die, die heute zu uns kommen. Es hat also auch mit Kurzsichtigkeit zu tun und mit Nicht-Erinnern-Wollen oder -Können. Die Welt, in der wir heute leben, ist viel komplizierter geworden als früher. Ich glaube, mancher aus der früheren DDR ist in der heutigen Welt noch nicht angekommen. Man muss viel mehr Entscheidungen treffen und dafür die Konsequenzen tragen. Viele sind überfordert. Die alte Bundesrepublik ist ab 1968 eine andere geworden. Bunter, offener, demokratischer. Das gab es in der DDR nicht. Wenn ich die Welt nicht verstehe und sie auch nicht so läuft, wie ich will, dann renne ich denen hinterher, die scheinbar ganz glatte und einfache Antworten haben.


Wie würden Sie den grundlegenden Unterschied definieren, in einer Demokratie oder in einer Diktatur zu leben?

Demokratie dauert länger. Denn das Wesentliche der Demokratie ist: Ich muss bereit und fähig sein zum Kompromiss. Dieser ermöglicht gemeinsames Handeln, aber oft sind alle Beteiligten unzufrieden, weil das von ihnen Gewünschte nicht oder nur zum Teil umgesetzt wird. In einer Diktatur ist das sozusagen viel einfacher. Da sagt einer, was gemacht wird. Was die anderen denken, interessiert nicht. Der wesentliche Unterschied ist vielleicht: Demokratie sucht nach einem gesellschaftlichen Kompromiss - und der ist in aller Regel nicht leicht zu finden.


Herr Eppelmann, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Marcus Christoph.

0 visualizaciones
bottom of page