Von Wim van Geenen
Buenos Aires (AT) - Noch in der vergangenen Silvesternacht traute sich kaum jemand daran zu glauben, dass 2021 ein besseres Jahr werden könnte. Dabei schien die „neue Normalität“ bereits in Reichweite: Die Impfkampagnen standen in den Startlöchern und das öffentliche Leben in Buenos Aires hatte sich - auch durch die zumeist großzügige Auslegung der noch gültigen Maßnahmen - den Umständen entsprechend normalisiert. Wenige Tage vor dem Jahreswechsel feierten Hunderttausende im Zentrum von Buenos Aires das neue Abtreibungsgesetz, als hätte es nie eine Pandemie gegeben.
Dennoch hatte das Krisenjahr 2020 Spuren hinterlassen: Vielerorts zeichnete sich ab, was die Spiegel-Journalistin Nicola Abé kürzlich als das kollektive „Post-Pandemie-Trauma“ der Argentinier bezeichnete. Der argentinische Sommer konnte über die wirtschaftlichen und sozialen, aber insbesondere die mentalen Probleme vieler Menschen nach der Quarantäne nicht hinwegtäuschen. Und der argentinische Winter stand erst noch bevor. In diesem Kontext war schon zum Jahreswechsel absehbar, dass das anstehende Wahljahr mitten in der Pandemie politisch interessant werden dürfte.
Bereits zu Beginn des Jahres hatten die Beliebtheitswerte von Präsident Alberto Fernández spürbar nachgelassen. Die zunächst stockende Impfkampagne und der monatelange Streit mit dem Bürgermeister der Autonomen Stadt Buenos Aires, Horacio Rodríguez Larretta, um die Öffnung der Schulen dürften einen Teil dazu beigetragen haben. Im Mai setzte sich Larretta vor dem Obersten Gerichtshof gegen die Bundesregierung durch. Die Schulen in CABA blieben danach geöffnet.
Überschattet wurde der Streit von einem weiteren Skandal: Als Ende Februar bekannt wurde, dass Minister und Funktionäre Impfungen abgezweigt hatten, um sich selbst, aber auch Familienangehörige und Freunde außerhalb des vorgesehenen Impfschemas immunisieren zu lassen, ging eine Welle der Empörung durch die Bevölkerung. Der als „Vacunatorio VIP“ diskutierte Skandal kostete Gesundheitsminister Ginés González García schließlich seinen Posten.
Mit dem argentinischen Sommer endete auch die Entspannung. Ab April zog eine Corona-Welle über das Land, welche mit stellenweise über 40.000 Fällen pro Tag alles bisher Bekannte in den Schatten stellte. Auf die stark steigenden Fallzahlen folgten die Maßnahmen: Mit einer noch sehr geringen Impfquote erließ die Regierung Mitte Mai Einschränkungen ähnlich jenen, die 2020 während der berüchtigten „Phase 1“ gegolten hatten.
Hatte die erste Hälfte des Jahres noch ganz im Zeichen der Pandemie gestanden, rückten ab Juli - auch unter dem Eindruck einer mittlerweile vorangeschrittenen Impfkampagne - die Kongresswahlen in den Fokus. Der Wahlkampf zog sich über Monate, blieb jedoch weitestgehend inhaltsleer. Anstatt konkreter Inhalte ging es meist um persönliche oder parteiinterne Streitigkeiten. Bereits in der frühen Phase des Wahlkampfs erreichte Argentinien die traurige Marke von 100.000 Corona-Toten.
Wenige Wochen vor den PASO-Vorwahlen im September tauchten dann Fotos auf, die den Präsidenten und seine Lebenspartnerin auf einer privaten Feier während der strengen Quarantäne des Jahres 2020 zeigten. Der „Olivos-Gate“ getaufte Skandal wurde zum moralischen Super-GAU für Alberto Fernández - welcher selbst vor laufenden Kameras verkündet hatte, er werde „Quarantänebrecher“ eigenhändig hinter Gitter bringen.
Der politische Super-GAU folgte auf dem Fuß: Bei den PASO-Vorwahlen am 12. September erlitt die Regierung eine krachende Niederlage, in deren Folge das Lager um Vizepräsidentin Cristina Kirchner eine politische Neuausrichtung forderte. Als sich keine Einigung ergab, traten wenige Tage nach der Wahl fünf Minister*innen und mehrere hohe Regierungsbeamte aus der Gefolgschaft der Vizepräsidentin zurück - eine handfeste politische Krise. Entgegen vieler Erwartungen konnte sich Alberto Fernández dennoch gegen Cristina durchsetzen. Das umgebildete Kabinett trägt seine Handschrift.
Die endgültige Niederlage bei den Kongresswahlen konnten jedoch weder die Kabinettsumbildung, noch die direkt nach der Wahl weitestgehend aufgehobenen Corona-Maßnahmen verhindern. Mit dem Ergebnis vom 14. November verlor die Regierung Fernández ihre Mehrheit im Senat, die ihr bisher ein bequemes „Durchregieren“ ermöglicht hatte. Das kommende Jahr wird zeigen, wie sich diese neuen Umstände auf die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfond auswirken. Der Haushalt für 2022 war noch in den letzten Tagen des Jahres an einer fehlenden Mehrheit gescheitert.
Es wäre wohl vermessen gewesen zu erwarten, dass 2021 ein einfaches Jahr werden würde. Politisch gesehen wirkt es im Rückblick wie eine Reihe aus Patzern, Skandalen und teils grober politischer Unvernunft. Abseits aller Probleme haben die Impfungen den Menschen jedoch auch neue Spielräume eröffnet.
Das Leben jenseits der Politik hat sich entspannt - mit dem Jahr 2021 begannen die ersten, vorsichtigen Schritte in Richtung einer neuen Normalität. Urlaubsreisen, Konzerte und viele weitere Aktivitäten wurden schrittweise wieder möglich. In Buenos Aires vibriert das Leben heute, Delta und Omikron zum Trotz, beinahe wie vor der Pandemie. In der Gesellschaft haben Corona und die Quarantäne dennoch ihre Spuren hinterlassen - auch in Form all jener, die es nicht bis in die neue Normalität geschafft haben.
留言