Im Gespräch mit Filmemacher David Nawrath
Von Catharina Luisa Deege
Buenos Aires/Berlin (AT) - „Es ist keine autobiografische Geschichte, aber eine sehr persönliche - eine erschreckend persönliche“, erklärt mir Regisseur David Nawrath, als wir vergangenen Freitag per Videocall über seinen 2018 veröffentlichten Film „Atlas“ reden. Er spaziert auf einem Friedhof in Berlin herum, da sei es „ein bisschen ruhiger“. Ruhig genug, um trotz mehrerer tausend Kilometer Entfernung tiefe Einblicke in den Entstehungsprozess des vergangene Woche auf der Streaming-Plattform des Goethe-Instituts gezeigten Dramas zu geben.
In „Atlas“ geht es um Familie. Genauer gesagt geht es um Walter Scholl (Rainer Bock), einen in die Jahre gekommenen Möbelpacker für Zwangsräumungen, an dem das Leben etwas vorbeigeht. Einen schweigsamen Mann, in dem es innerlich brodelt. Sein Arbeitgeber pflegt geschäftliche Beziehungen zu einem Familienclan, die Walter langsam aber sicher in große Schwierigkeiten bringen. Denn Opfer der heiklen Geschäfte ist bald kein Geringerer als Jan Haller (Albrecht Schuch), Walters eigener Sohn, den er vor Jahrzehnten verließ.
Nawrath, der für Regie und Drehbuch bei „Atlas“ zuständig war, fing erst an, das Skript aus der Perspektive des Sohnes zu schreiben. „In der Zeit bin ich selbst Vater geworden und plötzlich hat mich die andere Seite viel mehr interessiert.“ Eltern-Kind-Beziehungen stünden auch in früheren Projekten wie den Kurzfilmen „Was bleibt“ und „Der neue Tag“ schon im Vordergrund, jedoch stets aus der Perspektive des Jugendlichen.
Auf der Plattform des Goethe-Instituts lief das Drama unter dem Motto „Masculinidades“ (dt. etwa: Männlichkeiten). In die Auswahl dürfte Nawraths Film gefallen sein, da vor allem Hauptfigur Walter die sogenannte fragile, also zerbrechliche Männlichkeit verkörpert. „Ich habe mich einfach für diese Männerfigur interessiert, die schweigsam ist und Gefühle nicht kommuniziert. Und wenn man nicht über Gefühle redet, kann das zu Problemen führen.“
„Atlas“ ist ein schweigsamer Film. Wortkarge, aber aussagekräftige Dialoge und eine fast quälende Spannung charakterisieren den 100-minütigen Thriller. Neben Familie (und allem was dahinter steckt) geht es für den 1980 in Berlin geborenen David Nawrath in „Atlas“ vor allem um die Themen Schuld und Scham: „Die Hauptfigur hat in der Vergangenheit ein Verbrechen begangen und traut sich daraufhin nicht mehr, weitere Entscheidungen für sein Leben zu treffen. Die Schuld und die Scham sind so groß, dass er nur noch so mitgeht und versteckt lebt.“ Erinnern tut ihn das auch an das kollektive Schuldempfinden der Deutschen aufgrund der Gräuel des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Dabei sei es unglaublich wichtig, diese Schuld wach zu halten, sie zu kommunizieren.
„Scham und Kriege sind eigentlich das Problem unserer Gesellschaft. Nämlich das Unvermögen, über seine Gefühle zu sprechen oder das, was man denkt. Und jeder empfindet Scham und verschleppt dadurch Probleme, lässt sie größer und größer werden und das ist das, was mit Walter passiert. Das ist eine Dynamik, die Scham so bitter macht“, so der Filmemacher.
Spannend ist auch das Milieu, in dem „Atlas“ spielt. Größtenteils ältere, weiße Männer, deren Feierabendbier nach dem Möbelpacken das jeweilige Tageshighlight darstellt. „Ich glaube halt daran, dass alles interessant ist, wenn man genau hinguckt. Und genauer man hinschaut, desto mehr entdeckt man. Das ist die Formel für ‚Atlas‘“, so Nawrath. Der Absolvent der Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) erzählt mir, dass er während seiner Studienzeit viel auf dem Bau arbeitete: „Dadurch war mir diese Mentalität so vertraut, der Humor und wie traurig das dann auch sein kann, weil lauter Männer zusammen sind, aber jeder für sich total einsam ist.“ Vor allem das gegenseitige Trost spenden hätte ihn berührt; und mit solch einer Szene beginnt schließlich auch sein Film.
Wie die Möbelpacker für Zwangsräumungen erhält auch der Zuschauende Einblicke in verschiedene Lebensrealitäten; unter anderem in die eines Familienclans. Der Drehbuchautor verrät, dass die Idee des Clan-Ambientes erst relativ spät in die Geschichte einfloss. Und doch machte die Einflechtung dieser besonderen Familienstruktur für den Sohn einer iranischen Mutter und eines deutschen Vaters am Ende Sinn: „Dadurch, dass ich selber einen multikulturellen Hintergrund habe, habe ich da glaube ich einen anderen Zugang zu. Ich bin da nicht so vorsichtig mit. Deswegen lag es auch so nah, dem nachzugehen.“ Außerdem sei der Clan ein totaler Gegenentwurf zu dem, was die solitäre Hauptfigur erlebe: „Das fand ich irgendwie ein ganz spannendes Spielfeld.“
Protagonist Walter Scholl erwachte durch den deutschen Schauspieler Rainer Bock zum Leben. Der mittlerweile 67-Jährige ist so überzeugend in der Rolle, dass es so wirkt, als wäre sie für ihn geschrieben. Ganz so war es jedoch nicht, sagt David Nawrath: „Es war eine lange Suche nach der Besetzung. Als Rainer Bock ins Casting kam, war es eine große Erleichterung.“ Gelohnt hat es sich allemal: der Schauspieler erhielt sogar den Preis für den besten Hauptdarsteller des „Turin Film Festival“. Faszinierend für den Regisseur war es zu sehen, wie Bock sich der Rolle annahm. Es habe Momente während der Dreharbeiten gegeben, in denen Nawrath sah, dass „der Schauspieler, dadurch, dass er sie fühlt, die Figur viel besser verstanden hat als ich.“
David Nawrath hat sein Metier gefunden. Seine Werke regen zum Nachdenken an und lassen den Zuschauenden definitiv nicht kalt. Genau das ist für ihn persönlich das Wertvolle an Kunst und Kultur: „Warum gehen wir ins Kino, warum lesen wir Bücher? Weil wir letztendlich versuchen, irgendwie mit diesem Chaos, was uns umgibt, umzugehen.“
Beruhigten Gewissens kann man sich weiterhin auf inspirierende Geschichten des Regisseurs freuen. Sein neustes Projekt: „Euer Ehren“, eine sechsteilige Serie, die gerade noch in der Fertigstellung ist. Und wer den Berliner noch einmal live hören möchte, ist herzlich dazu eingeladen dem am 25. September um 16 Uhr vom Goethe-Institut Buenos Aires organisierten virtuellen Regisseur*innen-Gespräch beizuwohnen.
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