Der Film „Argentina, 1985“ bricht Kassenrekorde
Von Karoline Richter
Buenos Aires (AT) - „Verehrte Richter, nie wieder!“ Die letzten Worte des Staatsanwalts Julio Strassera nach seinem knapp achtminütigen Schlussplädoyer vor der Bundeskammer in Buenos Aires lösen tosenden Applaus aus. Die Menschen springen von ihren Sitzen, sie jubeln, weinen vor Ergriffenheit und umarmen sich. Wie erstarrt wirken die Gesichter der neun angeklagten Militärs, unter ihnen General Jorge Rafael Videla. Es ist eine der bewegendsten Szenen des Politthrillers „Argentina, 1985“, der schon jetzt als erfolgreichster Film das Jahres 2022 in Argentinien gilt.
Das Justizdrama des 41-jährigen Regisseurs und Drehbuchautors Santiago Mitre hat allein in den ersten drei Wochen seit seiner Premiere am 29. September mehr als 800.000 Menschen in die Kinos gelockt. Seit Ende Oktober ist es außerdem weltweit auf der Streaming-Plattform Amazon zu sehen. Der knapp zweieinhalbstündige Film - eine Koproduktion aus Argentinien und den USA - basiert auf einer wahren Geschichte und wurde zum Teil an Originalschauplätzen gedreht.
Im Mittelpunkt stehen der Staatsanwalt Julio César Strassera (eindringlich verkörpert von Ricardo Darín) und sein Kollege Luis Moreno Ocampo (Schauspielstar Peter Lanzani), die gemeinsam mit einem Team von hochmotivierten, jungen Mitarbeitern einen Prozess gegen Angehörige der argentinischen Militärjunta führen müssen. Ihnen bleiben nur wenige Monate, um Zeugenaussagen und Beweise gegen die Generäle zusammenzutragen, die gleich zum Auftakt des Prozesses selbstbewusst erklären, dass sie das Gericht nicht anerkennen werden.
Für seine Gerichtsszenen verwendete Regisseur Mitre protokollierte Originalaussagen sowie vereinzelt Archivaufnahmen des Originalprozesses. Aufwühlend sind die Passagen, in denen die überlebenden Opfer der Militärjunta von Verhaftungen und Misshandlungen berichten. Der Film begleitet die Zeugen in Großaufnahme, lässt sie minutenlang sprechen, unter ihnen eine junge Mutter, die als Schwangere verhaftet und brutal gefoltert wurde. Während der siebenjährigen Militärdiktatur (1976-1983) unter General Videla und Admiral Emilio Eduardo Massera verschwanden zehntausende Frauen und Männer; viele Schicksale konnten bis heute nicht aufgeklärt werden.
Umso größer war die Relevanz des Gerichtsverfahrens für die damals noch junge Demokratie in Argentinien: Dezent deutet das Filmdrama den Druck und die Gefahr an, denen etwa Staatsanwalt Strassera und seine Familie ausgesetzt sind. Einmal entscheidet sich Strassera spontan für den Fußweg zur Arbeit - er fürchtet eine Autobombe. Im Raum steht die Androhung eines erneuten Militärputsches, sollte der Chefankläger sich nicht zurückhalten, wie es ihm sein Vorgesetzter rät. Selbst Raúl Alfonsín, der erste demokratisch gewählte Präsident Argentiniens nach der Militärdiktatur, sucht das Gespräch mit Strassera.
Tatsächlich ist das Gerichtsverfahren um die argentinischen Militärs weltweit einzigartig. Vor 1985 war es noch keiner zivilen, demokratischen Institution eines Landes gelungen, eine Diktatur vor Gericht zu stellen und zu verurteilen. Bei den Nürnberger Prozessen 1945 hatten die Siegermächte das Verfahren geführt und die Urteile gefällt.
Trotz des ernsten Anliegens gelingt es dem Film, heitere Dialoge einzubauen. Herrlich normal läuft der Familienalltag im Hause Strassera ab. Sohn Julián, der den Prozess mitverfolgt, darf das Schlussplädoyer lesen und überarbeiten. Und auch die zahlreichen Drohanrufe bringen die Ehefrau und die Teenager-Tochter nicht wirklich aus der Ruhe.
Dass Chefankläger Strassera und sein Team unter Druck stehen, merkt der Zuschauer auch daran, dass die Filmhelden fast ununterbrochen rauchen. Trotzdem möchte man dem Film, der Argentinien bei der Oscar-Verleihung 2023 in der Kategorie „Bester internationaler Film“ vertreten soll, nur Erfolg wünschen. Bei seiner Weltpremiere in Venedig wurde „Argentina, 1985“ mit Standing Ovations gefeiert, beim Internationalen Filmfestival von San Sebastián gewann er den begehrten Publikumspreis.
Neben dem Schlussplädoyer bleibt eine weitere Szene in Erinnerung. Die Familie des jungen Ocampo war Teil der alten Elite. Immer wieder verteidigt die Mutter die Militärjunta. Bis sie im Fernsehen den Auftritt einer jungen Frau vor Gericht verfolgt. Sie ruft ihren Sohn an und gesteht, sie habe das alles nicht wahrhaben wollen. „Wie konnten sie das ihren Mitmenschen nur antun“, fragt sie schockiert.
„Argentina, 1985“ läuft derzeit in mehr als 200 Kinos in ganz Argentinien sowie weltweit auf Amazon Prime Video.
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