Von Stefan Kuhn
Es war unbestritten ein Seuchenjahr, das zweite in Folge. Wieder neue Corona-Wellen, mehr Infizierte, mehr Tote. In Deutschland hat eine Jahrhundertflut Tod und Verwüstung hinterlassen, in Myanmar zerstörte ein Militärputsch das zarte Pflänzchen Demokratie. In Hongkong schleift China die letzten demokratischen Institutionen, in Russland vollzieht Präsident Wladimir Putin derzeit Ähnliches. Putin hat den im Januar aus dem Amt geschiedenen US-Präsidenten Donald Trump ersetzt. Der Russe ist derzeit das größte globale Sicherheitsrisiko. Russische Truppen stehen an der Grenze zur Ukraine.
Dass ich das vergangene Jahr dennoch durch eine rosa Brille betrachte, hat vorwiegend persönliche Gründe. Ich habe schwere gesundheitliche Probleme nahezu unbeschadet überstanden, meine Familie ist bisher von Corona verschont worden, und das Argentinische Tageblatt erscheint weiter. Das alles macht auch den Blick auf das Weltgeschehen gnädiger.
Mehrheitlich Freude und Erleichterung hat wohl der Abgang Donald Trumps aus dem Weißen Haus hinterlassen. Endlich ist der Irre weg. Nur die Art des Abgangs war etwas befremdlich. Trump weigert sich nach wie vor, den Wahlsieg Joe Bidens anzuerkennen. Er blieb der Amtseinführung seines Nachfolgers fern. Zwei Wochen zuvor hatte er seine Anhänger dazu aufgestachelt, die Zertifizierung des Wahlergebnisses zu verhindern. Ein fanatischer Mob stürmte daraufhin das Kapitol. Es gab Tote und Verletzte. Wenn man sich in dieser Hinsicht den Machtwechsel in Deutschland ansieht, wo der Sozialdemokrat Olaf Scholz Anfang Dezember Angela Merkel ablöste, reibt man sich die Augen. Es waren die US-Amerikaner, die vor mehr als sieben Jahrzehnten die Demokratie nach Deutschland brachten. Den früheren Lehrmeistern scheint ihr Lieblingsfach abhanden gekommen zu sein.
Weg ist auch Benjamin Netanjahu. Der langjährige israelische Regierungschef musste seinen Stuhl räumen, als sich nach Parlamentswahlen eine reichlich bunte Links-Rechts-Mitte-Koalition fand. Ob diese von Dauer ist, muss sich erst zeigen. Vorerst einte sie nur das Ziel, den Dauerpremier loszuwerden. Man mag über Netanjahu denken, was man will. Mit ihm ging das größte Hindernis für eine Lösung des Nahostkonflikts. Aber jetzt muss die neue Regierung liefern. Scheitert sie, könnte Netanjahu bald wieder auftauchen. Er ist ein politisches Stehaufmännchen. Das gilt im Übrigen auch für Donald Trump.
Hoffnung gibt es auch in Deutschland. Es herrscht eine seltsame Aufbruchstimmung. Im Dezember ist eine neue Regierung angetreten, die das Land umgestalten will. Deutschland soll klimaneutral werden, sozialer, liberaler und dies, ohne neue Schulden zu machen. Die rot-grün-gelbe Bundesregierung unter Kanzler Scholz hat sich viel vorgenommen und wenig Zeit. Im nächsten Jahr gibt es vier Landtagswahlen, das dürften erste Plebiszite über die Arbeit der Regierung werden.
Noch hat sie Vorschusslorbeeren, denn nach 16 Jahren Angela Merkel, davon 12 Jahre große Koalition, war der Wunsch nach einem Wechsel groß. Es wäre allerdings falsch, zu behaupten, dass die Deutschen Merkel loswerden wollten. Ich bin überzeugt, mit ihr als Kandidatin hätten CDU und CSU die Wahlen erneut gewonnen. Sie ist im übrigen die einzige Kanzler*in, die selbstbestimmt ausscheidet. Konrad Adenauer wurde 1963 aus dem Amt gedrängt, sein Nachfolger Ludwig Erhard 1966. Dessen Nachfolger Kurt-Georg Kiesinger verlor die Bundestagswahlen 1969. Willy Brandt, der erste SPD-Kanzler, trat 1974 in Folge der Guillaume-Spionageaffäre zurück. Helmut Schmidt verlor 1982 ein konstruktives Misstrauensvotum. Helmut Kohl (CDU) unterlag nach 16 Jahren seinem Herausforderer Gerhard Schröder bei den Bundestagswahlen 1998. Schröder wiederum musste nach den Wahlen 2005 Angela Merkel Platz machen. Merkel erklärte 2018, drei Jahre vor den Bundestagswahlen, ihren Verzicht auf eine erneute Kandidatur.
Sportlich gab es aus Argentinien positive Nachrichten. Die Fußballnationalmannschaft hat nach fast drei Jahrzehnten wieder einen internationalen Titel geholt. Am 10. Juli schlug die Selección im Maracana-Stadion Gastgeber Brasilien mit 1:0. Es war der erste große Titel des "Unvollendeten" Lionel Messi, der im vergangenen Jahr zum siebten Mal zum "Weltfußballer" gekürt wurde. Weniger erfolgreich war das Jahr für die deutsche Mannschaft. Bei der Europameisterschaft unterlag man im Achtelfinale England. Bundestrainer Jogi Löw nahm nach 15 Jahren Abschied. Immerhin gelang Löws Nachfolger Hansi Flick mit einer Serie von sieben Siegen und 31:2 Toren die direkte Qualifikation für die Fußballweltmeisterschaft in Katar. Hier ist es allerdings angebracht, die rosa Brille abzunehmen. Die Gegner hießen Nordmazedonien, Rumänien, Armenien, Island und Liechtenstein. In Katar warten im Dezember andere Kaliber.
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