top of page
  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Mein Jahr: Nicht ganz so schlecht

Von Stefan Kuhn

Stefan Kuhn
(Foto: valu)

Es mag überraschen, aber unterm Strich war 2020 gar kein so schlechtes Jahr. Das ist natürlich eine äußerst subjektive Einschätzung. Wer seinen Betrieb wegen Corona schließen musste, seinen Job verloren hat, einen Angehörigen oder Freund, wird das kaum so sehen können. Natürlich habe auch ich das vergangene Jahr als Seuchenjahr empfunden, ich bin ja kein Corona-Leugner. Aber ich habe mich mal bemüht, die positiven Aspekte zu sammeln, und war selbst überrascht.

Da ist zunächst das Tageblatt. Es herrschte Untergangsstimmung. Dann hat der Tod unseres langjährigen Direktors und Herausgebers Dr. Roberto T. Alemann Ende März uns Mitarbeiter und vor allem seine Familie sehr getroffen. Die Zeitung war immer ein Herzensanliegen von Roberto Alemann. Er lebt in ihr weiter. Vor allem aber lebt das Tageblatt weiter. Solange es geht. Dank treuer Anzeigenkunden, vor allem aus der deutschen Gemeinschaft, haben wir das Krisenjahr überstanden. Wir sind uns aber im Klaren darüber, dass es 2021 nicht unbedingt einfacher wird.

Auch wenn der persönliche Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen fehlt und auch kleine Dinge wie das Feierabendbier nach Redaktionsschluss, auch wenn das Internet manchmal Streiche spielte, ist es uns gelungen, fast zehn Monate lang jede Woche eine Zeitung im Homeoffice herzustellen. Darauf sind wir auch ein wenig stolz.

Corona hat die Welt durcheinandergebracht, aber auch aufgeweckt. Plötzlich dachte man auch an Menschen, die man sonst gar nicht auf dem Bildschirm hatte. An Pflegerinnen und Pfleger in Krankenhäusern und Altenheimen, an Kassiererinnen in Supermärkten, Ärztinnen und Ärzte, Reinigungskräfte. Das abendliche Klatschen auf dem Balkon wird mir in Erinnerung bleiben, auch wenn es sich inzwischen totgelaufen hat. In vielen Ländern bemerkte man, dass das Gesundheitssystem tot gespart wurde, dass Intensivbetten, Beatmungsgeräte, Schutzkleidung und sogar Schutzmasken fehlten. Vor allem aber medizinisches Personal. Man stellte fest, dass die Globalisierung so ihre Tücken hat, als plötzlich Lieferketten brachen. Dass es plötzlich keine Schutzmasken mehr gibt, weil kaum ein Land diese selbst herstellt. Das Gros der Weltproduktion stammt ausgerechnet aus Wuhan, wo die Seuche ihren Anfang hatte.

Man kann nur hoffen, dass aus diesen Erkenntnissen auch Einsichten werden. Dass „systemrelevante“ Tätigkeiten gerechter entlohnt werden, dass ein funktionierendes Gesundheitssystem essentiell ist und dass es gefährlich sein kann, wichtige Produkte nur aus dem Ausland zu beziehen. In einer Pandemie ist sich jeder Staat selbst der nächste. Allerdings hat sich diese Antiglobalisierungstendenz schon vor Corona abgezeichnet. Der Brexit und die „America first“-Politik der USA unter Präsident Donald Trump sind abschreckende Beispiele. Man muss ihnen nicht folgen, aber man sollte gewappnet sein.

Über die positiven Auswirkungen von Corona auf das Klima gehen die Meinungen auseinander. Durch die weltweiten Lockdowns sind die Industrieproduktion und das Verkehrsaufkommen und damit auch der Schadstoffausstoß gesunken. Nachhaltig dürfte das kaum sein. Hier müsste sich schon etwas am Bewusstsein der Konsumenten ändern. Aber vielleicht hat ja der Corona-Sommer in Europa etwas angestoßen. Viele urlaubten zum ersten Mal im eigenen Land und entdeckten es. Es müssen nicht immer Flüge nach Mallorca oder zu exotischen Zielen sein. Auch eine Institutionalisierung des Homeoffice könnte das Verkehrsaufkommen reduzieren.

Ein bewundernswerter Nebeneffekt der Corona-Krise ist die breite Solidarität. Viele Menschen haben anderen selbstlos geholfen. Eine überwältigende Mehrheit hält sich an die Hygiene- und Abstandsregeln und schützt damit wesentlich die Mitmenschen. Das stellt die „Covidioten“- Corona-Leugner, sogenannte Querdenker, Verschwörungstheoretiker und Rechtsextremisten - in den Schatten.

In den meisten Ländern ist ihre Zahl überschaubar, aber sie sind kein Kollateralschaden der Pandemie, sondern ein großes Problem. Es sind Fanatiker, die wissenschaftliche Fakten leugnen. Das könnte man noch akzeptieren, schließlich darf jeder Mensch in einem pseudoreligiösen Wahn leben. Es fällt allerdings schwer, tolerant gegenüber Leuten zu sein, die sich nicht um die Gesundheit anderer scheren. Die Schutzmasken verweigern und geradezu bestrebt scheinen, ein Virus zu verbreiten, das sie für eine gewöhnliche Grippe halten. Die vorgeben, gegen eine Diktatur zu kämpfen und mit totalitären Gruppen marschieren.

In den USA ist deren Zahl erschreckend hoch. 74 Millionen US-Bürger*innen haben Donald Trump gewählt. So viele haben noch nie für einen amtierenden Präsidenten gestimmt. Dass dessen demokratischer Herausforderer Joe Biden am Ende sieben Millionen Stimmen und 74 Wahlleute mehr hatte ist der erfreulichste Corona-Effekt des Jahres. Es war kein gutes Jahr, aber ganz so schlecht war es nicht. Mit Biden und den Corona-Impfstoffen ist zumindest die Hoffnung da, dass 2021 besser wird.


1 visualización
bottom of page