Wolgadeutsche Traditionen in Entre Ríos
Von Anton Kästner
Um 1900 kamen Tausende Wolgadeutsche aus Russland nach Argentinien. Unter ihnen waren auch die Ururgroßeltern von Darío Wendler. Heute versucht der 60-Jährige das Kulturgut seiner Vorfahren vor dem Aussterben zu bewahren.
Buenos Aires (AT) - Darío Wendler hat ein zufriedenes Gesicht. „Sehr gut“ gehe es in Valle María zurzeit. Kürzlich hat die Gemeinde in der Provinz Entre Ríos ihr 144-jähriges Bestehen gefeiert, „mit Bierwagen, einem Umzug und Polka-Tanzen bis zwei Uhr früh“. Es waren Wendlers Ururgroßeltern, die sich gemeinsam mit anderen Wolgadeutschen 1878 auf den Weg machten, weg von ihren russischen Heimatdörfern, um in Argentinien ihr Glück zu versuchen. Sie kamen „mit Koffern, die wenig Wertvolles enthielten, aber dafür vollgestopft waren mit Träumen und Hoffnungen“, wie es poetisch auf der Website von Valle María heißt.
Es ist Wendler wichtig, dieses Erbe zu bewahren. Der Touristenführer und Kulturbeauftragte der Gemeinde nimmt sich zum Beantworten jeder Frage viel Zeit, spricht ein langsames und deutliches Spanisch, will verstanden werden. Er hat ein helles, freundliches Gesicht mit Lachfalten, die aus dem Schatten seiner kreisrunden Brille und der Schiebermütze treten.
In Valle María haben 70 Prozent der Leute wolgadeutsche Wurzeln. Ihre Vorfahren waren im 18. Jahrhundert von Deutschland nach Russland ausgewandert, wo Zarin Katharina die Große ihnen großzügige Sonderrechte gewährte. So mussten die Wolgadeutschen in Russland nicht zum Militär, durften weiterhin Deutsch sprechen und mussten auch keine Steuern zahlen. Zar Alexander II. nahm ihnen diese Sonderrechte 100 Jahre später wieder. Das brachte Tausende Wolgadeutsche dazu, zwischen 1878 und 1923 nach Argentinien überzusiedeln. Sie gingen auf Einladung der argentinischen Regierung, die damals dringend auf der Suche nach Menschen war, um das riesige Land zu bestellen.
Darío Wendler hat viel zur Geschichte seiner Vorfahren geforscht. Sein Interesse kam allerdings erst spät: Mit 20 Jahren verließ Wendler die wolgadeutsche Kolonie Valle María und ging nach Buenos Aires, wo er über mehrere Jahrzehnte in der Verwaltung des deutschen Krankenhauses arbeitete. Als er dann 2006 zurück in sein Dorf kam, begann er, sich mit der Geschichte seiner Ururgroßeltern auseinanderzusetzen. „Am Anfang waren sie wahrscheinlich sehr misstrauisch und unter sich“, meint der Touristenführer. „Das half ihnen dabei, ihre Bräuche und Traditionen zu bewahren.“ Über die Jahre seien die Kolonien aber immer offener geworden. Heute sei es selbstverständlich, dass die jungen Leute zum Studium in die umliegenden Städte zögen.
Auch bei Wendler ist der Einfluss der argentinischen Kultur zu sehen. Immer wieder nimmt der 60-Jährige während des Gesprächs einen Schluck von seinem Mate-Tee. Trotzdem seien bei ihnen auch die wolgadeutschen Traditionen noch allgegenwärtig, erzählt Wendler: „Wir essen viel Riwwelkuchen (Streuselkuchen) oder Kräppel (Krapfen) und auf jeder Hochzeit wird mindestens eine Polka getanzt.“ Schwieriger sei es, die Sprache beizubehalten. Der Touristenführer hat das Deutsche noch von seinem Vater beigebracht bekommen. Sein Sohn und seine Tochter leben beide weit entfernt von Valle María und würden nur noch einige wenige deutsche Wörter kennen.
Darío Wendler würde sehr gerne einmal Deutschland und die Wolgaregion besuchen. Sein Verhältnis zu beiden Ländern ist aber auch von Enttäuschung geprägt: In Russland wurden während des Zweiten Weltkrieges eine Million Wolgadeutsche in die Arbeitslager nach Sibirien gebracht. Und in Deutschland würden Russlanddeutsche momentan wegen des russischen Krieges in der Ukraine stark angefeindet. „In Russland waren wir die deutschen Nazis, und in Deutschland sind wir jetzt die bösen russischen Kommunisten.“
Die Frage nach Heimat ist für Wendler also nicht leicht zu beantworten. Einfacher ist es beim Fußball: Ob er bei der WM dieses Jahr für Argentinien oder Deutschland sei? „Ganz klar für Argentinien. Deutschland feuere ich höchstens an, wenn sie gegen Brasilien spielen.“
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