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Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Machtbewusster Mittelstand

Von Juan E. Alemann

Die Gesellschaften der fortgeschrittenen Staaten werden politisch vom Mittelstand geprägt, nicht nur wegen seines hohen Anteils an der Gesamtbevölkerung, sondern auch, weil der Mittelstand die Grundwerte einer Gesellschaft bestimmt, und die Politiker fast alle aus dem Mittelstand stammen. Das ist auch in Argentinien so. Angenommen 45 Prozent der Bevölkerung werden als arm eingestuft, und fünf Prozent gehören zu den Reichen, dann verbleiben 50 Prozent als Mittelstand. Doch die Wertvorstellungen des Mittelstandes wirken auch auf viele Arme, die in der Gesellschaft aufsteigen wollen.

Von den Armen kümmern sich wenige um Politik. Sie lesen keine Zeitungen, sind mangelhaft informiert und interpretieren das Geschehen meistens falsch. Ihre Sorge um das Überleben kommt an erster Stelle, und in vielen Fällen der Fußball an zweiter. Doch bei den Wahlen stellen sie die Mehrheit, was dazu führt, dass oft Demagogen oder sympathische Kandidaten, die ihre Sprache teilen und ihre Wünsche verstehen, hier gut ankommen.

Die Oberschicht wirkt bei der Politik wenig, einmal, weil es sich um wenige Stimmen handelt, und dann, weil sie die intensive Arbeit scheuen, die die Politik von denjenigen fordert, die aktiv mitmachen. Dabei gibt es selbstverständlich Ausnahmen. Mauricio Macri, Horacio Rodriguez Larreta und andere Politiker sind reich, ebenso wie in den Vereinigten Staaten Donald Trump und vorher auch John F. Kennedy. Doch die Reichen spielen bei der Finanzierung der Politik eine Rolle, die meistens jedoch passiv ist. Sie geben für alle große Parteien. In Argentinien ist es jetzt so, dass Cristina Kirchner, die von Haus aus arm war und jetzt zu den Superreichen gehört, ihre politische Tätigkeit ohne Schwierigkeiten finanziert, angefangen mit dem Institut Patria, das eine teure Struktur hat. Ihr steht mehr Geld zur Verfügung als der Opposition.

Die gesellschaftliche Struktur hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Die Industrie wurde automatisiert, und wo es früher hundert ungelernte Arbeiter gab, die als Arme eingestuft wurden, sind jetzt einer oder zwei gelernte tätig, die zum Mittelstand gehören oder dies zumindest anstreben. Die Wirtschaft ist in den letzten 70 Jahren zunehmend komplexer geworden, mit weniger ungelernten und mehr ausgebildeten Arbeitskräften, einem viel höheren Anteil an Dienstleistungen und einer technologischen Revolution. Der Aufstieg des Mittelstandes kommt auch in der explosiven Zunahme des Automobilbestandes, der Fernsehanlagen und der weiteren Haushaltsgeräte zum Ausdruck.

Plötzlich ist der Widerspruch offen aufgetreten, dass eine Regierung an der Macht ist, die sich auf die Stimmen der Armen stützt, aber der Mittelstand sich bewusst geworden ist, dass dabei seine Grundwerte missachtet werden, wie Ethik und Ehrlichkeit derjenigen, die die Regierung bilden, und ganz besonders die Achtung der Verfassung und der Rechtsordnung im weiteren Sinn. Der Mittelstand will auch weniger Bürokratie und weniger staatliche Einmischung in das Privatleben.

Der Mittelstand ist am Montag der Vorwoche, und schon vorher, massenweise auf die Straße gegangen, um seinen Protest zum Ausdruck zu bringen. Bisher taten das fast nur die Armen, geleitet von linkesextremen Politikern. Die großen Zeitungen und die meisten Fernsehkanäle, deren Leser und Zuschauer fast alle zum Mittelstand gehören, üben scharfe Kritik an der Regierung und lassen auch Cristina und ihre Leute bei ihren Korruptionsverfahren nicht in Ruhe. Schließlich wird sich dieser Protest auch auf die Wahlen übertragen. Der Mittelstand verhielt sich bei der Wahl von 2003, als Néstor Kirchner gewann, passiv. Jetzt bereut der Mittelstand dies und will dem Kirchnerismus ein Ende setzen.

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