Arbeitssommer auf der Schweizer Alp
Von Christiane Oelrich
Hitzige Debatten über Corona? Meckern über Masken? Für zwei deutsche Studentinnen in der Schweiz ist das gaaanz weit weg. Sie sind mit Milch und Melkschemel beschäftigt.
Habkern - Ohne Muskeln geht auf der Alp so gut wie nichts. Wenn Lotta Bess (28) die kiloschweren Käselaibe hochwuchtet, treten vor Anstrengung die Adern auf ihren Armen hervor. Zwei Eimer voller frischer Milch vom Stall in die Käseküche hieven - auch für ihre Freundin Jule Fründt (25) ein Kraftakt. Die deutschen Studentinnen verbringen den Corona-Sommer auf einer Alp in der Schweiz. Auf gut 1500 Metern Höhe kümmern sie sich vier Monate lang um fast 40 Kühe, 34 Rinder, 18 Kälber, zehn Schweine, zwei Hunde, Weidezäune und Misthaufen, Generatoren, Holzfeuer und vor allem Käse. Schwerstarbeit, von früh bis spät. "Ein Paradies", sagen die beiden dennoch vergnügt. Corona, das ist ganz weit weg.
Wenn die Kühe morgens ab fünf Uhr von der Weide muhend vor die Stalltür trotten und ihre Kuhglocken auch die müdeste Tiefschläferin aus den Träumen reißen, geht die Arbeit los. Die beiden kennen jede Kuh: "Komm Birke, komm", versucht Lotta, eine von ihnen zu ihrem Stellplatz zu führen. Gloria bekommt einen leichten Klaps, damit sie aufsteht. Vor dem Ausruhen ist Melken angesagt. Wegen der Hitze und der Fliegen verbringen die Tiere den Tag im Stall, die Nacht auf den saftigen Bergwiesen rund um die Sennhütte oberhalb von Habkern im Berner Oberland.
Lilli bekommt als erstes Stroh in ihre Glocke gestopft. Das Bimmeln durch ihre rhythmischen Kopfbewegungen würde die Sennerinnen sonst in den Wahnsinn treiben. Alexa hebt vor dem Stall den Schwanz und kackt, so dass es spritzt. Die Frauen tragen wohlweislich Gummistiefel. "Na komm, hinein mit dir", sagt Jule und holt die Mistgabel. Der Misthaufen wächst täglich um Hunderte Kilogramm.
Lotta schleppt das Melkgeschirr in den Stall. Die Kühe werden von Hand vorgemolken, dann hilft eine Vakuumpumpe, die Milch vom Euter in die Metallkanne zu befördern. Ein lauter Generator treibt die Pumpe an und stört morgens und abends die ansonsten stromfreie Idylle. Handyempfang? Sehr sporadisch. Lotta und Jule haben ein Handy mit Gummiseil an einer ganz bestimmten Stelle am Küchenfenster festgeschnallt - nur dort funktioniert es, manchmal. Wenn die beiden Lust auf Musik haben, kommt ein alter Discman zum Einsatz, ein tragbarer CD-Spieler, dessen Batterie aufgeladen wird, wenn der Generator läuft. Sie käsen an diesem Morgen zu Philip Glass.
Die beiden aus der Nähe von Tübingen und Marburg studieren in Witzenhausen bei Kassel ökologische Agrarwissenschaften. Auf der Alp bekommen sie einmal pro Woche eine deutsche Zeitung, oft mit vier, fünf Tagen Verspätung. Das reiche, um auf dem Laufenden zu bleiben. Corona und Kita, Urlaub und Unmut, Schlachthöfe und Schutzmasken - Debatten über Ängste und Befindlichkeiten in Deutschland berühren sie hier oben wenig.
Auf den rund 6800 Schweizer Bergweiden - Alpen genannt - sind jeden Sommer etwa 12.000 Sennerinnen und Senner wie Lotta und Jule im Einsatz, schätzt Giorgio Hösli. Pro Kuh bekommen Bauern ein paar Hundert Franken Subvention im Sommer, weil sie die Verwaldung der Alpwiesen aufhalten und die Biodiversität fördern. Hösli, selbst Alpbauer, hat ein Älpler-Portal mit Stellenvermittlung eingerichtet. "Personen mit Durchhaltevermögen und Anpassungsfähigkeit gesucht", heißt es etwa. Rund 2500 Franken (2300 Euro) gibt es netto pro Monat.
Durchhaltevermögen und Anpassungsfähigkeit haben Lotta und Jule auch zu Hause. Die beiden leben bei Witzenhausen in der Natur, jeweils in einem Bauwagen, mit Plumpsklo vor der Tür und nur einem Solarpanel als Stromquelle. "Hier gibt es einen richtigen Ofen", schwärmt Lotta, die nebenbei Brot und Kuchen backt. "Purer Luxus."
In Marokko hatte in diesem Jahr jemand die Webseite mit den Stellenanzeigen entdeckt und in einem Youtube-Video auf Arabisch erklärt, wie das Bewerbungsformular auszufüllen ist. Die Schweizer Bauern wurden von Marokkanern mit Anfragen überrannt, manchmal mehr als 200 am Tag. Dass Marokkaner nie eine Arbeitserlaubnis dafür bekommen würden, hatte der Youtuber nicht gesagt. Erst im Juni, als die Alpen alle besetzt waren, flaute der Ansturm ab, sagt Hösli. Die Sorge, dass wegen Corona zu wenig Älpler kommen, war unbegründet. Es hätten sich im Frühjahr kurzfristig sehr viele Schweizer gemeldet.
Das Interessanteste am Alpeinsatz, sind Lotta und Jule sich einig, ist das Käsemachen. Neben dem morgendlichen Melken wird schon das Holzfeuer unter dem Kupferkessel mit der Milch - Kessi genannt - gestartet. Für die Gerinnung des Käses kommen Milchsäurebakterien und Lab dazu, Enzyme aus Kälbermägen. Das Eiweiß gerinnt schnell, Jule zieht mit einer großen Käseharfe Schnittkanten in die dick werdende Masse. Während ein Rührwerk den Käsebruch in Bewegung hält, ist Zeit fürs Frühstück: Cappuccino, selbst gebackenes Brot und natürlich Käse.
Sobald die Käsekörner die richtige Konsistenz haben, kommt ein neuer Kraftakt: Mit einem großen Tuch schöpft Lotta kiloweise Käsebruch aus dem Kupferkessel. Mit Schwung befördert sie die Masse in die Käseformen. Die ablaufende Molke wird als Delikatesse direkt in den Schweinestall gepumpt. Die Käsemasse wird schnell fest und muss mehrmals gewendet werden. Am nächsten Tag kommen die frischen Käselaibe für 24 Stunden in ein Salzbad und dann zum Reifen ins Käselager. Bis zu 520 Liter Milch bekommen Lotta und Jule zum Start des Sommers bei zweimal Melken zusammen, für etwa sechs Käselaibe.
Rund ein Drittel der Älpler kommt aus Deutschland, schätzt Hanspeter Graf, im Berner Oberland Leiter der Alpkäsereiberatung. Ein Bauer, der seine Kühe sowie Lotta und Jule am Abend auf der Alp besucht, hat eine Idee, warum: "Die Deutschen haben mehr Ausdauer", sagt er. Von Graf, der bei Problemen beim Käsen mit Tipps und Tricks hilft, bekommen Lotta und Jule großes Lob: "Toller Käse", sagt Graf anerkennend.
Ob ein eigener Landwirtschaftsbetrieb ihr Fernziel ist, da sind sich die beiden noch nicht ganz sicher. Der Alpsommer, das sei wie "Bauernhof spielen", sagen sie. "Du machst dein eigenes Ding, versorgst die Tiere und machst den Käse, aber wenn irgendein Problem auftaucht, kannst du den Bauern anrufen", sagt Lotta. "Ein eigener Betrieb - das ist schon eine krasse Verantwortung", meint Jule. Sie ist zum dritten Mal im Sommer auf der Alp, Lotta zum vierten Mal.
Je länger der Sommer, desto mehr Muskeln sind nötig: wenn die Käserei getan und alles wieder blank geputzt ist, müssen die beiden nämlich im Käselager fast jeden Tag die Laibe aus den Regalen hieven, wenden und mit Salzwasser abreiben. Hunderte Käselaibe kommen da zusammen.
Nach einer kleinen Nachmittagspause geht die Arbeit weiter: erst das Abendmelken, dann kommen die Kühe aus dem Stall. "Kommt Mädels, es geht raus!" - mit so aufmunternden Worten bugsiert Jule die gemächlichen Kühe nach draußen. Sie trotten erstmal zum Wassertrog, dann langsam in die Wiese.
Nach zehn, zwölf Stunden Arbeit kommt am Abend das Privatvergnügen: kochen, essen, abwaschen, und dann ist Zeit für Wanderungen in der Umgebung - oder auch nur, um den Blick über die Gipfel schweifen zu lassen. Das Augstmatthorn, gut 2100 Meter hoch, liegt direkt vor der Tür. "So ein Alpeinsatz ist zufriedenstellender als das Studieren", sinniert Lotta. "Man weiß genau, was zu tun ist, und man sieht am Ende des Tages, was man gemacht hat."
Nur, wenn mal eine Strecke mit Nebel- und Regentagen kommt "und die Welt am Schweinestall aufhört", kann es auch in der Alpidylle hart sein. Der nächste Sonnenaufgang über den satten Alpwiesen entschädige dafür aber schnell. Was den beiden in der Bergidylle fehlt, ist ganz mondän: "Ein Eisbecher", sagt Jule. "Ausschlafen und spätstücken", meint Lotta. "Kino." "Tanzengehen." "Wenn ich mal selbst eine Alp hätte, würde ich den Sennerinnen einen Tag in der Woche frei geben", sagt Lotta. Eines Tages. Vielleicht. (dpa)
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