Von Christoph Meyer und Benedikt von Imhoff
"Polling Place" (Wahllokal) - die pinkfarbenen Schilder waren gestern an vielen Ecken in der schottischen Hauptstadt Edinburgh zu sehen. In England würde man von einer "Polling Station" sprechen. Doch wie so vieles ist das in Schottland ein "wee" (klein) bisschen anders als bei dem großen Nachbarn im Süden. Bei der Wahl zum Regionalparlament könnten nun auch die Weichen für eine Loslösung des Landes von Großbritannien gestellt werden.
Mehr als 4,2 Millionen Menschen waren zur Abstimmung aufgerufen. Die Schottische Nationalpartei (SNP) von Regierungschefin Nicola Sturgeon hofft auf eine absolute Mehrheit. Sie will dann ihre Forderungen nach einem neuen Unabhängigkeitsreferendum verstärken. Sie braucht dafür die Zustimmung der Zentralregierung in London, doch der konservative Premierminister Boris Johnson will davon bislang nichts wissen.
Bei einem ersten Referendum 2014 hatten sich 55 Prozent der Schotten gegen eine Abspaltung ihres Landes ausgesprochen. Die SNP argumentiert aber, die Situation habe sich mit dem von den schottischen Wählern mehrheitlich abgelehnten EU-Austritt Großbritanniens grundlegend geändert.
Auch in anderen Teilen des Vereinigten Königreichs wurde am "Superwahltag" abgestimmt: In Wales wählten die Menschen ebenfalls ein neues Parlament, in weiten Teilen Englands neue Gemeinde- und Bezirksräte sowie Bürgermeister - unter anderem in London. Stimmzettel konnten bis 22 Uhr (Ortszeit) abgegeben werden. Mit Ergebnissen wird größtenteils erst am Wochenende gerechnet.
Es sind vor allem die jungen Menschen in Schottland, die sich die Unabhängigkeit wünschen. Das spiegelte sich gestern auch vor den Wahllokalen wider. "Ich will Teil Europas sein und wünsche mir ein Schottland, das offener ist", sagt der 26 Jahre alte Nicholas Hawks, der seine Stimme im Wahlbezirk Edinburgh Central der SNP gegeben hat. Zwar habe er 2014 noch gegen die Abspaltung von Großbritannien gestimmt, doch der Brexit habe ihn davon überzeugt, dass Schottland seine Gesetzgebung besser selbst in der Hand haben sollte. Für die Konservativen stehe das Wohl Großbritanniens nicht im Mittelpunkt, glaubt Hawks.
Die Unbeliebtheit Johnsons und seiner Tories in Schottland ist ein klarer Vorteil für die SNP. Einer Umfrage der Universität Bristol und des King's College London zufolge misstrauen drei Viertel der Schotten (72 Prozent) dem britischen Premier in Sachen Pandemiebekämpfung. Eine Mehrheit der Schotten (55 Prozent) glaubt zudem, dass die Regierung in London insgesamt keine gute Figur im Kampf gegen das Coronavirus gemacht habe. Zuletzt haben Gegner einer Unabhängigkeit in Umfragen aber aufgeholt, auch wegen des Erfolgs des Corona-Impfprogramms der britischen Regierung.
Die 67-jährige Kristina Taylor hält Johnson zwar für einen "Kasper", wie sie sagt, aber von einem unabhängigen Schottland will sie auch nichts wissen. Deswegen hat sie den Konservativen ihre Stimme gegeben. Die gebürtige Edinburgherin, die mit dem Zungenschlag der britischen Oberklasse spricht, ärgert sich über Leute, die erst kürzlich nach Schottland gezogen sind und nun für die Unabhängigkeit werben. "Schweden, Deutsche, Franzosen - die machen sich alle für die Unabhängigkeit stark, warum?", empört sie sich. Die andere Gruppe seien verbitterte alte Leute, die nicht mit ihrer Lebensleistung zufrieden seien und nun eine Bestätigung in nationalem Stolz suchten. "Wir nennen sie die Tartan-Arme", so Taylor. Tartan ist die Bezeichnung für die typischen schottischen Karo-Muster.
Verbittert ist Greg Borland allenfalls über den Brexit. Der professionelle Musiker hat seine Stimme im Hafenviertel Leith der SNP gegeben. Der 57-Jährige zeigt sich beeindruckt von Regierungschefin Nicola Sturgeon. "Sie hat eine sehr starke Persönlichkeit und ist einfach jemand, dem ich Glauben schenken kann", sagt er. Der EU-Austritt habe für ihn, der mit seiner Folk-Band auch immer wieder in Heidelberg, Coburg und München aufgetreten ist, nur Probleme gebracht. Für Europa-Tourneen benötige er jetzt ein Visum, und auch der Einkauf von Instrumenten von einem wichtigen Händler in Deutschland sei nun kaum noch möglich wegen der zusätzlichen Kosten.
Johnsons Konservative hoffen darauf, in Schottland zumindest auf dem zweiten Platz hinter der SNP zu landen. Auch bei der Bürgermeisterwahl in London ist für sie ein Wahlsieg kaum in Reichweite. Amtsinhaber Sadiq Khan von der Labour-Partei lag Umfragen zufolge in der Wählergunst weit vor seinem konservativen Herausforderer Shaun Bailey.
Doch trotzdem könnte der Super-Wahltag für Johnson zu einem Teilerfolg werden. Die englische Öffentlichkeit blickte vor allem auf Hartlepool. In der nordostenglischen Hafenstadt fand eine Nachwahl zu einem Parlamentssitz statt. Umfragen zufolge hatten die Konservativen gute Chancen, das Mandat nach Jahrzehnten von der Labour-Partei zu übernehmen. Auch bei den Kommunalwahlen in vielen Teilen Englands dürfen die Tories auf zusätzliche Mandate hoffen. "Es ist ein wichtiger Tag an den Urnen", twitterte Johnson. "Hoffentlich geht jeder raus und wählt." (dpa)
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