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„Jeder Mensch ist ein Künstler“

Zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys

Von Dorothea Hülsmeier

Joseph Beuys
Joseph Beuys: der Jahrhundertkünstler mit dem Filzhut. (dpa)

Er war Deutschlands einflussreichster und umstrittenster Künstler. Joseph Beuys wäre in diesem Jahr 100 geworden. Der Künstler vom Niederrhein löste nicht weniger als eine Revolution in der Kunst aus.

Düsseldorf - Er wird Heiland, Superstar, Lügner oder Märchenerzähler genannt - wohl kein Künstler hat zu Lebzeiten und über seinen Tod hinaus so polarisiert und provoziert wie Joseph Beuys (1921-1986): Er führte Filz und Fett in die Kunst ein, er überschritt die Grenze zur Politik und erweiterte den Kunstbegriff mit seinem zentralen Leitspruch „Jeder Mensch ist ein Künstler“ - „ob er nun bei der Müllabfuhr ist, Krankenpfleger, Arzt, Ingenieur oder Landwirt.“ Am 12. Mai wäre Beuys 100 Jahre alt geworden.

Noch 35 Jahre nach seinem Tod - Beuys starb mit 65 Jahren an einem Pilz in der Lunge - liefern sich Kunsthistoriker Deutungsschlachten über den Universalkünstler vom Niederrhein, dessen Markenzeichen der Filzhut und die Anglerweste war. Seit Jahren geht es dabei vor allem um die Frage, ob der ehemalige Hitlerjunge, der sich freiwillig zum Kriegsdienst meldete, vom Nationalsozialsozialismus und von völkischer Ideologie durchdrungen war.

Dutzende Ausstellungen - wegen der Corona-Auflagen meist nur eingeschränkt zu sehen - präsentieren im Jubiläumsjahr das Werk von Beuys in Deutschland und weltweit - von Berlin über Düsseldorf, Wien, Mailand, Izmir bis nach Japan, Chile, Chicago und Melbourne. Beuys war ein Weltkünstler, der die Kunst nicht nur in seiner Heimat umkrempelte. Seine Werke sind heute in vielen Museen zu finden, aber schwer zu entschlüsseln: bekritzelte Schultafeln, Basaltstelen mit eingebettetem Filz, riesige Talg-Blöcke, Vitrinen mit kultischen Objekten wie für eine Reise ins Jenseits.

Dass Beuys auf Ressentiments stieß, hat nach Ansicht der Kunst- und Literaturwissenschaftlerin Catherine Nichols auch einfache Gründe: Viele Leute hätten sich vor seinen Materialien geekelt und seine Aktionen als esoterisch empfunden. Und: Manche hätten Schwierigkeiten damit, wie Beuys in seinem Werk mit Mythos und seiner Biografie umgehe.

Beuys selbst hat gesagt, dass man ihn als „Märchenerzähler“ verstehen müsse, sagt Eugen Blume, Beuys-Experte und früherer Leiter des Gegenwartsmuseums Hamburger Bahnhof in Berlin. „Er hat Legenden und Mythen im geistigen Sinne produktiv gemacht.“ Der größte Mythos ist die Legende um seinen Abschuss an Bord eines Sturzkampfbombers über der Krim im Zweiten Weltkrieg. Tatarische Nomaden hätten ihn schwerverletzt geborgen, ihn in Filz und Fett gewickelt und so geheilt, erzählte Beuys seit 1968. Abgesehen davon, dass es 1944 gar keine Nomaden auf der Krim gab, wurde das Flugzeug auch nicht abgeschossen, sondern war bei schlechtem Wetter abgestürzt. Der Pilot kam ums Leben, Beuys wurde im Feldlazarett behandelt.

Warum aber hat Beuys die Krim-Legende erfunden?“ Sie ist ein poetischer Reflex auf den Krieg“, sagt Blume. „Natürlich stimmt sie historisch nicht. Das Bild der Heilung eines Kriegers durch ein mit der Natur verbundenes Nomadenvolk ist eigentlich das Wichtige. Es sind Wandlungsbilder, die er immer wieder erzählt.“

Mehrfach haben Autoren Beuys‘ Lebenslauf kritisch beleuchtet. Für Aufsehen sorgte 2013 eine Biografie, in der Autor Hans-Peter Riegel die These aufstellte, Beuys sei „bis ins Mark völkisch“ gewesen und habe sich mit auffallend vielen Alt-Nazis umgeben.

Beuys-Jubiläum Ausstellungen
Zum Beuys-Jubiläum gibt es zahlreiche Ausstellungen - unter anderem in der Kunsthalle Lüneburg. (Foto: Philipp Schulze/dpa)

Völkische Ideologie bei Beuys? Für Kunstexperte Blume ist das abwegig. Allein der Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler“ widerlege diese These. „Dieser Satz ist der klare Widerspruch gegen jede Form von Rassismus, Frauenfeindlichkeit und völkischem Denken.“

Beuys wurde erst mit über 40 Jahren berühmt - und er war vor allem ein Medienstar. Er zählt zu den meistfotografierten Künstlern der 60er bis 80er Jahre, als es noch keine Smartphones gab und kein Internet. War Beuys also ein Selbstdarsteller? Nein, meinte sein Schüler Johannes Stüttgen einmal. „Er ist als Künstler gleichzeitig Bestandteil des Kunstwerks.“ Beuys selbst sagte über sich: „Ich bin der Narr, der Idiot mit dem Filzhut (...). Ich will den Leuten klarmachen, dass ich eigentlich genauso bin wie sie selber.“

Beuys habe sich ab 1964 als Privatperson aufgegeben und sich als gesellschaftliche Person verstanden, „die an sich selbst experimentell zeigen wollte, dass allein die Kunst in die Freiheit führt“, meint Blume. „Am Ende war er in jeder Hinsicht so etwas wie ein Superstar.“

So schrill Beuys‘ Aktionen waren, so zart waren seine Zeichnungen. Auf Tausenden Blättern entstand ein rätselhaft mythischer Kosmos, bevölkert von Hasen, Hirschen, Bienen, Schwänen, Elchen. Mit Beize, Bleistift oder Braunkreuzfarbe malte Beuys, der „Schamane“, hauchzarte Frauenkörper, Nebelfrauen und „Urschlitten“. Manchmal erinnern sie an Höhlenzeichnungen aus der Steinzeit.

Was hat Beuys der Kunst gebracht außer Filz, Fett und schrägen Aktionen? „Die Öffnung der zeitgenössischen Kunst in den politischen und sozialen Raum, die man in den letzten Jahrzehnten deutlich sehen kann, hat viel mit Beuys zu tun“, sagt Blume. Beuys habe als erster diese Grenze überschritten und sich „enorm engagiert“. Eine von Blume und Nichols kuratierte Ausstellung in der Kunstsammlung NRW verweist auf Beuys‘ Erbin heute: Fridays-for-Future-Aktivistin Greta Thunberg. (dpa)


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