Steinmeier telefoniert mit Selenskyj
Berlin (dpa/mc) - Nach wochenlanger Verärgerung zwischen Berlin und Kiew kommt Bewegung in die verfahrene Situation - bis hin zur Möglichkeit eines Besuchs von Kanzler Olaf Scholz. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier telefonierte gestern mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. „Irritationen der Vergangenheit wurden ausgeräumt“, teilte Steinmeiers Sprecherin Cerstin Gammelin anschließend mit. Selenskyj lud, wie es aus dem Bundespräsidialamt hieß, sowohl Steinmeier persönlich wie auch die gesamte Bundesregierung zu Besuchen nach Kiew ein.
Gestern Abend kündigte Scholz an, dass Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) „demnächst“ in die Ukraine reisen werde. Geplant ist zudem eine Fahrt von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas am Sonntag in das Kriegsland. Sie wäre als Parlamentspräsidentin die bislang höchste Repräsentantin Deutschlands in Kiew seit Ausbruch des Krieges. Die Sozialdemokratin habe „den Wunsch zu einer Reise in die Ukraine, um auf Einladung ihres ukrainischen Amtskollegen Ruslan Stefantschuk gemeinsam mit ihm aller Opfer des Zweiten Weltkriegs zu gedenken und politische Gespräche zu führen“, sagte eine Bundestagssprecherin gestern.
Das Weltkriegsgedenken findet am 8. Mai, also an diesem Sonntag statt. Dann wird das Kriegsende 1945 in Europa durch die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht gefeiert.
„Der Bundespräsident hat dem ukrainischen Präsidenten seine Solidarität, Respekt und Unterstützung für den mutigen Kampf des ukrainischen Volkes gegen die russischen Aggressoren ausgesprochen“, sagte die Sprecherin Steinmeiers weiter. Er und Selenskyj bezeichneten ihr Gespräch den Angaben zufolge als „sehr wichtig“ und „sehr gut“. „Beide Präsidenten vereinbarten, in engem Kontakt zu bleiben.“
Der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, Andrij Jermak, bestätigte das Telefonat. „Deutschland bleibt ein mächtiger Verbündeter der Ukraine“, schrieb er im Nachrichtendienst Telegram. Weitere Details zu dem Gespräch wolle die ukrainische Seite später veröffentlichen.
Ein Sprecher Selenskyjs sagte der „Bild“-Zeitung, beide Präsidenten hätten sich darauf verständigt, „ihre Vergangenheit zurückzulassen und sich auf die zukünftige Zusammenarbeit zu konzentrieren“.
Die Irritationen waren zustande gekommen, nachdem die ukrainische Seite Mitte April einen Besuch Steinmeiers in Kiew abgelehnt hatte (wir berichteten). Der Bundespräsident wollte die ukrainische Hauptstadt zusammen mit den Präsidenten Polens und der drei baltischen Staaten besuchen, wurde zur Verärgerung Berlins aber im letzten Moment ausgeladen.
Wegen dieses Affronts lehnt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine Reise nach Kiew seitdem ab, obwohl er dort, wie Botschafter Andrij Melnyk deutlich gemacht hat, willkommen wäre. „Es ist ein Problem, dass der Präsident der Bundesrepublik Deutschland ausgeladen wurde. Und das steht im Raum“, sagte Scholz zuletzt am Mittwoch nach der Kabinettsklausur in Schloss Meseberg. Das sei eine Angelegenheit, „wo die Ukraine auch ihren Beitrag leisten muss, im Gespräch mit dem Bundespräsidenten, in Diskussionen, die da stattfinden“.
Dieser erste Schritt ist nun mit dem rund 45 Minuten langen Telefonat von Steinmeier und Selenskyj getan. Als zweiter Schritt kann die Teilnahme von Bundestagspräsidentin Bas am Weltkriegsgedenken in Kiew angesehen werden - eine Geste, die dort dem Vernehmen nach sehr geschätzt wird.
Der Stimmung in Berlin nicht förderlich war in den vergangenen Wochen auch die ständige Kritik aus der Ukraine an der angeblichen deutschen Zögerlichkeit bei der Lieferung von Waffen für den Abwehrkampf gegen Russland.
Wegen der Ausladung von Steinmeier und der dadurch verursachten Weigerung von Scholz, nach Kiew zu fahren, war der Vorsitzende der Christdemokraten (CDU), Friedrich Merz, der erste hochrangige deutsche Politiker, der nach Ausbruch des Krieges dorthin kam.
Stahlwerk weiter umkämpft
Kiew (dpa) - Der Kampf um das Stahlwerk Azovstal in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol hält an. "Mit Unterstützung der Luftwaffe hat der Gegner seinen Angriff mit dem Ziel erneuert, das Fabrikgelände unter seine Kontrolle zu bringen", teilte der ukrainische Generalstab gestern in seinem Lagebericht mit. Der Kreml dementierte gestern einen Sturm auf das Gelände. In dem Stahlwerk haben neben den ukrainischen Kämpfern Schätzungen zufolge auch noch bis zu 200 Zivilisten Zuflucht gesucht.
Russischen Angaben zufolge haben Zivilisten in Mariupol seit gestern Morgen die Möglichkeit zur Flucht aus dem Stahlwerk. Es gebe Fluchtkorridore, die heute und in diesen Tagen funktionierten, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Sowohl die russische als auch die ukrainische Seite haben bis Samstag täglich Feuerpausen zugesichert. Ob tatsächlich weitere Menschen fliehen konnten, war zunächst unklar.
Sinn Fein vor Wahlsieg
Belfast (dpa/mc) - Einst galt Sinn Fein als politischer Arm der militanten Organisation IRA (Irish Republican Army), nun könnte sie bald stärkste Kraft im Regionalparlament Nordirlands werden. Die Partei des vor einigen Jahren in den Ruhestand gegangenen Gerry Adams und anderen mehrheitlich katholischen Befürwortern der Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland dürfte Umfragen zufolge bei der gestrigen Wahl weit vor der protestantisch-unionistischen DUP (Democratic Unionist Party) landen. Ergebnisse werden erst im Laufe des heutigen Freitags erwartet.
Zur Stimmabgabe aufgerufen waren rund 1,4 Millionen Menschen. Gewählt wurden 90 Abgeordnete für die Northern Ireland Assembly, je fünf aus den 18 Wahlkreisen. Mit einem Ergebnis der Auszählung wurde frühestens am Freitagnachmittag gerechnet. Sollten sich die Umfragen bestätigen, wäre das ein symbolischer Wendepunkt in dem vor gut 100 Jahren geschaffenen Landesteil des Vereinigten Königreichs. Bisher war stets eine Partei als stärkste Kraft hervorgegangen, die sich für die Beibehaltung der Union mit Großbritannien einsetzt.
Die Frage der irischen Einheit hat Sinn Fein unter der aktuellen Parteichefin Michelle O'Neill, die eine junge und progressive Generation verkörpert, vorerst zurückgestellt. Stattdessen setzte sie auf soziale Themen. O'Neill warb damit, eine Regierungschefin "für alle" sein zu wollen.
Trotzdem dürfte sich eine Regierungsbildung als schwierig erweisen. Der als Karfreitagsabkommen bekannte Friedensschluss aus dem Jahr 1998 sieht eine Einheitsregierung aus den größten Parteien beider konfessioneller Lager vor.
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