Von Wim van Geenen
Genau 40 Jahre nachdem der „Spiegel“ in Deutschland erstmals vor der „Tödlichen Seuche AIDS“ warnte, geistert dieser Tage ein neues Virus durch die Medien. Das Affenpockenvirus ist ein sexuell übertragbarer Erreger, der Fieber, Schmerzen und unschöne Hautausschläge verursacht. Verglichen mit Corona scheint die Experten zufolge „ernstzunehmende“ Erkrankung nur verhältnismäßig schwer übertragbar zu sein. In vielen Fällen heilt sie zudem ohne Folgeschäden aus. Dennoch kommen nun die altbekannten Fragen auf: Woher kommt das Virus, wie verbreitet es sich und wie kann man sich vor ihm schützen?
Wer nach Antworten sucht, erlebt ein Déjà-Vu: Erneut scheinen es die Verdächtigen von damals zu sein, die den Ausbruch der neuen, wenn auch weniger tödlichen Seuche vorantreiben. Medienberichten zufolge erkranken bisher vornehmlich „homosexuelle Männer“ oder „Männer, die Sex mit Männern haben“. Letzteres ist eine neuere Formulierung, die darauf hinweist, dass Sex unter Männern nicht notwendigerweise mit einer homosexuellen Identität einhergeht.
Während die „BILD“-Zeitung mutmaßte, ob es ein „Fetisch-Festival“ in Antwerpen war, das zum Affenpocken-Ausbruch führte, vermutete die „Süddeutsche Zeitung“ ein „Schwulenfestival in Spanien“ hinter den noch vergleichsweise geringen Fallzahlen. Einiges erinnert an die 80er-Jahre, als das noch neue HI-Virus im Volksmund „Schwulenpest“, „Homosexuellen-Seuche“ oder in Argentinien „peste rosa“ hieß und Journalisten unbeschwert über den „Durchseuchungsgrad“ in der Berliner „Homo-Szene“ schrieben. Vierzig Jahre später scheint man sich erneut einig zu sein, dass es die (tatsächliche oder zugeschriebene) Promiskuität schwuler Männer ist, die weltweit die Volksgesundheit bedroht.
Obwohl die paranoide Angst der „Mehrheitsgesellschaft“ vor dem penetrierten Männerkörper wahrlich kein neues Phänomen ist, erstaunt es doch, wie sehr Homosexualität und Ansteckung bis in die Qualitätspresse miteinander verwoben werden. Das Eindringen-Lassen potentiell infektiösen Materials in den als unverletzbar gedachten Männerkörper scheint die Phantasie der kollektiven Immunität oder gar die gesamte gesellschaftliche Ordnung in höchstem Maße zu gefährden. In diesem Sinne sind das Affenpockenvirus und die entsprechenden Medienberichte gerade dabei, eine alte Unterscheidung wiederzubeleben, die einst für viel Unheil sorgte: Auf der einen Seite steht der „gefährliche“ und potentiell infektiöse schwule Sex, auf der anderen der „gesunde“, saubere heterosexuelle Verkehr. Die unangenehme Frage danach, auf welche Weise die „Schwulenkrankheiten“ irgendwann in den Ehebetten bürgerlicher Familien ankommen, bleibt gemeinhin unbeachtet - die Antwort findet sich auf Bahnhofstoiletten, in nächtlichen Parkanlagen und in den Untiefen einschlägiger Dating-Apps.
Letztendlich ist es angesichts der Affenpocken aber unnötig, sich gedanklich weiter in die Vorlieben schwuler Männer zu vertiefen. Stattdessen könnte die „Mehrheitsgesellschaft“ heute von der queeren Community, also der Gesamtheit nicht-heterosexueller Lebensformen, lernen: Diese hat über die Jahrzehnte seit dem Aufkommen von HIV eigenständig sichere Sexpraktiken eingeübt, die heute fester Bestandteil queerer Subkultur sind. Regelmäßige Tests auf HIV und andere Geschlechtskrankheiten sind für viele queere Menschen eine Selbstverständlichkeit, während es ihrem heterosexuellen Umfeld trotz zahlloser Aufklärungskampagnen oft an Basiswissen zu der Thematik fehlt. Gerade junge heterosexuelle Menschen haben häufig noch nie in ihrem Leben einen HIV-Test gemacht.
Das eigentlich Interessante an der queeren Eigeninitiative ist jedoch die Vorstellung von Sicherheit, auf der sie beruht. Während Gesundheitsbehörden und Kirchenvertreter darauf drangen, HIV durch Verbote und Verzicht einzudämmen, wuchs in der queeren Gemeinschaft die Vorstellung, Sicherheit durch Wissen und Erfahrung zu ermöglichen. Der US-amerikanische Soziologe Douglas Crimp fasste diese Idee mit den Worten „Es ist unsere Promiskuität, die uns rettet“ zusammen: Um ein Risiko zu beherrschen, müssen zunächst Erfahrungen und Kenntnisse über die potentielle Gefahr erworben werden. Denn letztendlich sind es in fast allen Lebensbereichen Erfahrungswerte (und nicht etwa Verbote), die einen gelingenden Umgang mit Gefahren möglich machen.
Gleichzeitig setzt sich die queere Gemeinschaft seit Jahrzehnten auch politisch dafür ein, HIV und AIDS eines Tages zu besiegen. Während in der Corona-Pandemie weite Teile der Zivilgesellschaft in kollektive Lethargie verfielen und die Corona-Politik eher ertrugen als sie mitzugestalten, treiben queere Aktivistengruppen wie die „AIDS Coalition to Unleash Power“ (ACT UP) seit Jahrzehnten Regierungen und Pharmakonzerne vor sich her, um HIV irgendwann heilen zu können.
Selbst auf dem Höhepunkt der AIDS-Krise waren es nicht zuletzt die queeren Gemeinschaften, die unter schwierigsten Umständen Praktiken kollektiver Sorge entwickelten. Aus der direkten Konfrontation mit dem damals noch tödlichen Virus erwuchsen Formen queerer Solidarität, die weit über die Corona-Nachbarschaftshilfe hinausgingen.
Vor diesem Erfahrungshorizont ist es möglich, die Affenpocken gelassen zu sehen. Die mediale Fixierung auf die Schwulen ist angesichts der neuen Bedrohung nicht hilfreich. Sie wiegt, ganz im Gegenteil, heterosexuelle Menschen in falscher Sicherheit. Eine unangenehme Diagnose ist meist umso schmerzhafter, wenn sie aus heiterem Himmel kommt. „Menschen mit häufig wechselnden Geschlechtspartnern“ wäre deshalb die bessere Formulierung. In Großbritannien geht die Mehrzahl frischer HIV-Infektionen heute auf das Konto heterosexueller Menschen - die Schwulen haben aus dem Trauma der AIDS-Krise gelernt. Für jede „Seuche“ gilt: Ein Virus kennt keine Moral.
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