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Im Blickfeld: Wie Sebastian Kurz die EU treibt

Von Matthias Röder und Verena Schmitt-Roschmann

Kurz
Bundeskanzler von Österreich, spricht bei einer Pressekonferenz im Rahmen eines Videogipfels der EU-Staats- und Regierungschefs im Bundeskanzleramt in Wien. (Foto: dpa)

Mehr Corona-Impfstoff, gerechte Verteilung, Grüner Pass für Urlaubsreisen - darüber zerbrachen sich die EU-Staats- und Regierungschefs beim Gipfel gestern die Köpfe. Und bei allen drei Themen hatte einer zuletzt besonders gedrängelt: Österreichs Kanzler Sebastian Kurz. Der 34-jährige Konservative gefällt sich als Treiber im Club der 27 Staaten. Zuhause kommt das oft gut an, zumal Kurz innenpolitisch in Schwierigkeiten steckt. Doch einige EU-Partner sind ziemlich genervt.

Jüngstes Beispiel ist des Kanzlers laute Forderung nach einer neuen Verteilung der Corona-Impfstoffe. Recherchen seines Kanzleramts hätten ergeben, dass die Mengen ungleich verteilt würden, dass es womöglich Nebenabsprachen gebe, sagte der ÖVP-Politiker Mitte März. Dann holte er sich Bulgarien, Kroatien, Lettland, Slowenien und Tschechien an seine Seite. Die Verteilung müsse neu justiert werden, forderte Kurz. "So wie es ist, so soll es nicht bleiben."

Die Regeln der EU-Impfstoffverteilung waren aber keineswegs geheim. Die Vakzine werden grundsätzlich nach Bevölkerungsgröße vergeben; will aber ein Land seinen Anteil an einem bestimmten Mittel nicht oder nicht ganz, können andere diesen kaufen. Deutschland bestellte zum Beispiel zusätzliche Mengen von Biontech/Pfizer, weil deren neuartiger Impfstoff einigen Ländern suspekt oder zu teuer war. Andere Länder setzten stärker auf das preiswerte AstraZeneca und leiden nun besonders unter Lieferproblemen.

Letztlich musste die Regierung Kurz einräumen, dass Österreich die Chance auf mehr Impfdosen gehabt hätte, sie aber nicht wahrnahm. Auf den geforderten "Korrekturmechanismus" pocht Kurz trotzdem. In der "Welt" feuerte er am Mittwoch mit rhetorisch scharfem Geschütz. Es würden hier "EU-Mitgliedsstaaten zweiter Klasse" geschaffen, eine "höchst politische Frage" sei das: "Denn es steht die Solidarität innerhalb der Europäischen Union auf dem Spiel".

Der deutsche Europa-Staatsminister Michael Roth (SPD) hatte Kurz bereits am Dienstag eine kühle Absage erteilt: "Ich sehe derzeit keine Veranlassung, an diesem transparenten und sehr fairen Verfahren etwas zu verändern." Der CDU-Europapolitiker Peter Liese nannte Kurz' Anliegen sogar "unanständig": "Bei aller Solidarität in der EU, das geht zu weit, eine grundsätzliche Neuverteilung lehne ich ab."

Es ist nicht das erste Mal, dass Kurz in der EU auf Konfliktkurs geht. Gut in Erinnerung ist in Brüssel noch sein forsches Auftreten in der Migrationspolitik und im Haushaltsstreit 2020. Mitten in der Corona-Pandemie verkündete er Anfang März, Österreich werde sich bei Impfstoffen nicht mehr auf die EU verlassen. Öffentlichkeitswirksam reiste Kurz mit der Dänin Mette Frederiksen nach Israel und schmiedete eine Produktionsallianz. Nur bezieht Israel bisher seine Corona-Impfstoffe vorwiegend aus der EU.

So macht Kurz auf der europäischen Bühne viel Wind für das kleine Österreich. Oft greift er sich populäre Themen und reklamiert schnell Erfolge. Er tut dies eloquent und geschmeidig. Aber vielen geht nicht nur der PR-Turbo auf die Nerven. In Berlin sieht man die vielen Grüppchen-Initiativen in der EU auch als Gefahr für den Zusammenhalt. Und prompt kommt die Frage: Was steckt dahinter?

Tatsächlich spürt Kurz in Österreich innenpolitisch Gegenwind wie noch nie in seinen beiden Amtszeiten. Erstmals wird eine von ihm geführte Regierung laut einer Umfrage des Meinungsforschers Peter Hajek mehrheitlich eher negativ beurteilt. "Das ist ein ernstes Alarmzeichen, aber aktuell noch keine Bedrohung", sagt Hajek zu den Ergebnissen des regelmäßig erhobenen "Österreich Trends".

Kurz steht in der Pandemie unter Erwartungsdruck der Bürger. Wie kaum ein anderer, hat er früh das optimistische Bild eines weitgehend normalen Sommers 2021 gemalt. Doch im Moment ist der Trend düster. Zudem hat er weitere brisante Baustellen. Die Justiz ermittelt gegen Finanzminister Gernot Blümel wegen des Verdachts der Bestechlichkeit im Zusammenhang mit Parteispenden. Blümel, einer der engsten Vertrauten von Kurz, bestreitet die Vorwürfe und bleibt im Amt.

Im Ibiza-Untersuchungsausschuss gräbt die Opposition mit wachsendem Selbstbewusstsein nach Hinweisen, die die Käuflichkeit der damaligen Regierung von ÖVP und rechter FPÖ belegen sollen. Mit dem jetzigen Koalitionspartner Grüne hat die ÖVP Streit über Migration wie auch über die Causa Blümel. Grünen-Fraktionschefin Sigrid Maurer bescheinigt der "Kanzler-Partei ein sehr selektives Verhältnis zum Rechtsstaat".

Die europapolitischen Vorstöße des Kanzlers nennt das Magazin "News" eine "Flucht nach vorne". Markantes Auftreten in Brüssel findet in der Heimat oft Wohlgefallen. "Das hat auch mit dem Selbstwertgefühl zu tun, dass sich ein kleines Land wahrgenommen fühlt", sagt Hajek.

Die EU-Impfstrategie bietet genug Angriffsfläche. Viele Bürger sind erbost, dass andere schneller impfen und mehr Impfstoff haben als die EU-Staaten. In Deutschland haben es SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz und der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) übernommen, immer mal an die Verantwortung der EU-Kommission zu erinnern und Zornesblitze der Bürger umzuleiten.

Immerhin stellen Kurz' kritische Vorstöße die Europäische Union nie grundsätzlich in Frage. Die ÖVP hat eine gefestigte proeuropäische Haltung. "Aber Kurz sagt eben auch, dass nicht alles Gold ist, was glänzt", meint Hajek. (dpa)


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