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  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Im Blickfeld: Wahlsieg gleich Kanzlerschaft?

Von Marcus Christoph

Wie muss es sich angefühlt haben für die Sozialdemokraten, nach 19 Jahren endlich mal wieder als stärkste Partei eine Bundestagswahl zu gewinnen? Hinter ihnen liegen bittere Urnengänge, bei denen sie wiederholt auf historische Tiefststände fielen. Und auch diesmal hatten ihnen die Meinungsforschungsinstitute zunächst nicht viel zugetraut. Vor wenigen Monaten noch galt es fast als realititätsfern, dass die älteste deutsche Partei bei den diesjährigen Wahlen überhaupt einen Anspruch aufs Kanzleramt anmeldete.

Doch die SPD machte diesmal etwas Entscheidendes besser als die Konkurrenz von Union und Grünen, die in den Umfragen deutlich vorne lagen: Sie nominierte mit Olaf Scholz ihren besten Mann als Kanzlerkandidaten - und das auch noch ohne parteiinterne Querelen und mit ausreichendem zeitlichen Vorlauf. Die Union bot - nach zermürbendem Machtkampf - mit Armin Laschet einen schwachen Bewerber auf. Meinungsforscher sind sich einig, dass die Konservativen mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder weit bessere Chancen gehabt hätten. Gleiches gilt für die Grünen, bei denen die in Sachen öffentliche Ämter erfahrungslose Annalena Baerbock den Vorzug gegenüber dem charismatischen und abgeklärten Robert Habeck erhielt.

Die SPD setzte hingegen auf Scholz, obwohl er 2020 bei der Wahl zum Parteivorsitz noch durchgefallen war. Doch den Strategen im Willy-Brandt-Haus war klar, mit jemandem aus dem neuen Führungsduo - Saskia Esken oder Norbert Walter-Borjans („Nowabo“) - wäre bei Bundestagswahlen kein Staat zu machen gewesen.

Scholz aber konnte in seinen aktuellen Funktionen als Vizekanzler und Finanzminister bei der ersten Wahl seit 1949, bei der kein amtierender Regierungschef ins Rennen ging, noch am ehesten so etwas wie Amtsbonus einbringen. Außerdem kam der einstige Hamburger Bürgermeister mit seiner soliden, nüchternen Art in weiten Teilen Norddeutschlands gut an.

Ob Scholz aus seinem Wahlsieg nun auch politisches Kapital schlagen kann, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Konkret hat er zwei Machtoptionen. Die eine wäre eine Fortsetzung der „großen Koalition“ mit der Union, die aber nach acht Jahren der politischen Zwangsehe keiner der Beteiligten will. Die andere Möglichkeit ist das Zustandekommen einer „Ampelkoalition“, die neben dem Wunschpartner, den Grünen, auch die FDP mit einschlösse, die wirtschafts- und finanzpolitisch ganz andere Vorstellungen hat als die SPD.

Die letzte Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Liberalen auf Bundesebene endete 1982, als Letztere während der Legislaturperiode die Seiten wechselten. Die insgesamt 13 Jahre des sozialliberalen Regierungsbündnisses unter den SPD-Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt waren jedoch innen- wie außenpolitisch gute Jahre für die Bundesrepublik. Seit Schmidts Sturz kam es indes nur in wenigen Fällen zu einer Zusammenarbeit zwischen den beiden Parteien.

Scholz muss das Kunststück gelingen, sehr verschiedene politische Anschauungen unter einen Hut zu bringen und dann im Idealfall so etwas wie Aufbruchsstimmung und Begeisterung für ein ganz neues politisches Projekt zu entfachen. Für ein solches Bündnis aus SPD, Grünen und FDP spräche, dass es die drei Parteien enthielte, die bei den Wahlen am Sonntag Stimmengewinne verbuchen konnten.

Schwierigkeiten dürften aber nicht nur in der Unterschiedlichkeit der potenziellen Koalitionäre begründet sein, sondern auch in den Positionierungen von Scholz‘ eigenen Genossen. Noch in der Wahlnacht bezeichnete der ehemalige Jusos-Vorsitzende und jetzige stellvertretende Bundesvorsitzender Kevin Kühnert die Steuerpläne der FDP als „Voodoo-Programm“. Mit Tönen dieser Art dürfte er Scholz, der die Liberalen zur Regierungsbildung ja braucht, einen ziemlichen Bärendienst erwiesen haben. Man braucht kein Prophet zu sein, wenn man annimmt, dass ein Kanzler Scholz ähnlich viel „Freude“ mit den eigenen Parteilinken haben dürfte wie einst Helmut Schmidt.

Mit Letzterem würde Scholz übrigens nicht nur den Hamburg-Bezug teilen, sondern auch den Umstand, als Kanzler nicht gleichzeitig Parteivorsitzender zu sein. Kanzlermacht ohne Parteimacht sei wie ein Reiter ohne Pferd, meinte der Parteienforscher Karl-Rudolf Korte einst mit Blick auf das Ende der Ära Schmidt.

Scholz ist stark durch das Wahlergebnis - die ARD berichtete, dass 36 Prozent derjenigen, die ihre Zweitstimme der SPD gaben, dies wegen des Spitzenkandidaten taten. Scholz ist potenziell aber auch schwach, weil die eigenen Parteigenossen ihm bei der Abstimmung um den Parteivorsitz eine Abfuhr erteilten.

Zudem muss er nun auch erst mal abwarten, wie die Vorgespräche von Grünen und FDP laufen. Einer dieser beiden potenziellen Koalitionspartner muss aus seiner Komfortzone und in das andere Lager wechseln. Den Liberalen wäre ein rechnerisch ebenfalls mögliches Jamaika-Bündnis, bei dem statt der SPD dann CDU und CSU vertreten wären, naturgemäß lieber.

Doch eine Union, die gerade 8,9 Prozent gegenüber den Wahlen vor vier Jahren eingebüßt und das mit Abstand schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren hat, kann nun wirklich keinen Anspruch anmelden, vom Wähler mit der Regierungsbildung beauftragt zu sein. Entsprechende Äußerungen von Laschet am Wahlabend wirkten realitätsfremd.

Selbst wenn die Unionschristen vielleicht doch noch in eine Verhandlungsposition kämen - etwa dann, wenn die Gespräche zur Bildung der „Ampel“ scheitern - ist es nach dem desaströsen Wahlergebnis nur schwer vorstellbar, dass die Verhandlungsführung bei Laschet liegt. Aber wer weiß: Vielleicht schlägt dann ja doch noch mal die Stunde von Markus Söder...


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