Von Stefan Kuhn
Der Deutsche Bundestag ist überfüllt. In TV-Übertragungen aus dem Plenarsaal fällt das nicht unbedingt auf, denn die 709 Abgeordnetensessel sind selten vollständig besetzt - in Corona-Zeiten aus gutem Grund. Dennoch leistet sich Deutschland das größte nationale Parlament seiner Geschichte. Nicht ganz freiwillig, denn beim deutschen personalisierten Verhältniswahlrecht können Überhangmandate entstehen.
Theoretisch sitzen im Bundestag 598 Abgeordnete. 299 werden in Wahlkreisen direkt gewählt, ebenso viele Sitze werden über von den Parteien erstellte Landeslisten vergeben. Die Wähler*innen haben zwei Stimmen, eine für den Direktkandidaten bzw. die Kandidatin, die andere für die entsprechende Partei. Dabei kann es geschehen, dass eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Dieses Missverhältnis wurde lange akzeptiert, vor allem weil CDU/CSU und SPD, die beiden größten Parteien davon profitierten. Bis zur Wiedervereinigung 1990 hielt sich das auch in Grenzen. Es gab maximal 5 Überhangmandate und zwischen 1961 und 1980 gar keine. Das lag hauptsächlich daran, dass der Bundestag ein Dreiparteienparlament mit zwei großen Fraktionen und einer kleinen war.
Auch mit dem Einzug der Grünen ins nationale Parlament 1983 hat sich da wenig geändert, der große Anstieg der Überhangmandate kam 1994 von 6 auf 16, davon 12 für die CDU und 4 für die SPD. Hauptgrund waren die (damals) neuen Bundesländer, denn dort kam es vor, dass die Christdemokraten alle Wahlkreise gewannen, aber deutlich unter 50 Prozent beim Zweitstimmenanteil blieben. In Thüringen beispielsweise kam die Partei auf 41 Prozent, holte alle Direktmandate und gewann dabei drei Sitze mehr als ihr proportional zugestanden hätten. Bei der Bundestagswahl 1998, als Gerhard Schröder (SPD) in einer rotgrünen Koalition Kanzler wurde, gewann seine Partei alle 13 vergebenen Überhangmandate. Im kleinen Sachsen-Anhalt holte sie mit 38,1 Prozent der Zweitstimmen alle Direktmandate. Das ergab vier Überhangmandate.
Im Normalfall hat das keine großen Auswirkungen auf das Wahlergebnis. Aber es kann auch schon mal eng werden. Nach den Bundestagswahlen konnte Rot-Grün unter Kanzler Schröder weiter regieren. Der bequeme Vorsprung auf die Opposition war allerdings auf neun Stimmen geschrumpft. Vier davon waren Überhangmandate. Das bedeutete, man konnte sich vier statt zwei Abweichler leisten.
Vier Jahre später gab es bereits 24 Überhangmandate, alle für die Unionsparteien. Das hatte mit dem Stimmensplitting zu tun. Viele FDP-Wähler*innen wählten Direktkandidaten*innen der Union, der Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme liegt bei fünf Prozentpunkten. Im Prinzip ist das eine interessante, häufig praktizierte Variante des deutschen Wahlrechts. Man kann für Wunschkoalitionen stimmen oder Kandidaten*innen wählen, die man besonders schätzt, auch wenn sie nicht der bevorzugten Partei angehören. Das gilt natürlich auch umgekehrt.
2009 war die letzte Bundestagswahl, in der es nur Überhangmandate gab. Das Bundesverfassungsgericht hat schon zuvor entschieden, dass diese Regelung nicht verfassungskonform ist. Seither bekommen die anderen Parteien Ausgleichsmandate, damit sich das Wahlergebnis auch in den Mandaten widerspiegelt. 2013 gab es zwar nur vier Überhangmandate, aber das lag daran, dass FDP und AfD knapp den Einzug in den Bundestag verpassten. Vier Jahre später schafften sie den Wiedereinzug, im Bundestag gibt es nun sechs Fraktionen und 46 Überhangmandate. Das war unvermeidlich, denn CDU/CSU und SPD holten rund 97 Prozent aller Direktmandate, hatten aber nur einen Zweitstimmenanteil von 53 Prozent. Deshalb sitzen heute 111 Abgeordnete mehr im Parlament, als dort eigentlich sein dürften.
Dies ist vor allem für den Steuerzahler ein Ärgernis. Allein mit den Gehältern (Diäten und Kostenpauschale) der zusätzlichen Abgeordneten entstehen Mehrkosten von 20 Millionen Euro pro Jahr. Dazu kommen Mitarbeitergehälter, Mieten, Bürokosten, Gelder für Auslandsreisen und Einladungen von Delegationen.
Dass sich das ändern muss, ist allen klar. Was fehlt, ist der Wille. Derzeit wird über einen Vorstoß des CDU/CSU-Fraktionschefs Ralph Brinkhaus diskutiert, der die Streichung von Direktmandaten vorsieht, sollte die Höchstzahl von 630 Abgeordneten überschritten werden. Man muss ihm zugute halten, dass er sich 14 Monate vor der Bundestagswahl zumindest bewegt. Aber die Vorstellung, dass ein Kandidat oder eine Kandidatin, der oder die einen Wahlkreis gewonnen hat, nicht in den Bundestag darf, ist befremdlich. Das würde das personalisierte Verhältniswahlrecht pervertieren.
Es gibt nur eine Lösung: eine deutliche Verringerung der Wahlkreise, gepaart mit einer Reduzierung des Anteils der Direktmandate. Wenn nur noch 40 Prozent der Abgeordneten direkt gewählt werden, sinkt die Zahl der Überhangmandate und damit auch die der Ausgleichsmandate. Im Übrigen wurde der Anteil der Zweitstimmen schon einmal gesenkt. Im 1. Bundestag 1949 saßen noch 60 Prozent direkt gewählte Abgeordnete.
Einfach wird eine Verringerung der Wahlkreise nicht werden. Da spielen geografische, historische und vor allem politische Gründe eine Rolle. Es gefällt keiner Partei, wenn sie plötzlich weniger Posten zu vergeben hat. Für die Bundestagswahlen 2021 ist eine Neuordnung der Wahlkreise wohl nicht mehr möglich. Das hat man in Berlin wohl bewusst vertrödelt. Allein deshalb ist der Vorstoß von Brinkhaus gar nicht so übel.
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