Von Stefan Kuhn
Die Welt atmet auf. Der Demokrat Joe Biden hat die US-Präsidentschaftswahl nach bisherigem Stand der Auszählungen gewonnen. Donald Trump ist abgewählt. Biden hat demnach 279 von 270 nötigen Stimmen im Wahlleute-Kollegium sicher, Trump kommt auf 217. In drei Staaten - Arizona, Georgia und North Carolina - wurde noch kein Sieger prognostiziert. In Georgia wird neu ausgezählt, denn dort ist das Ergebnis äußerst knapp. Biden liegt dort lediglich 14.000 Stimmen vor dem amtierenden Präsidenten. In Arizona ist der anfangs bequeme Vorsprung des Demokraten auf weniger als 13.000 Stimmen geschmolzen. Es könnte durchaus sein, dass Trump seinen Gegner überholt oder ebenfalls neu ausgezählt wird. In North Carolina hat Trump bei 98 Prozent ausgezählten Stimmen noch einen Vorsprung von 70.000. Eine Mehrheit der politischen Analysten geht davon aus, dass Trumps demokratischer Gegner am Ende auf 306 Wahlleute kommt, so viele wie Trump vor vier Jahren bekommen hat. Das wäre überzeugender, ist aber unerheblich. Biden hat die nötigen Stimmen.
Joe Biden hat auch das "Popular vote", gewonnen. Mit mehr als 77 Millionen Wählerinnen und Wählern, so viele hat vor ihm nie ein Kandidat erreicht, liegt er fünf Millionen vor Trump. Das hat im US-Wahlsystem zwar nur symbolische Bedeutung, gibt aber eine zusätzliche moralische Legitimität. Selbst für Donald Trump war das wichtig. Dass er vor vier Jahren fast drei Millionen Stimmen hinter seiner Konkurrentin Hillary Clinton lag, erklärte er durch "massiven Wahlbetrug". Es hat schlicht seine Eitelkeit gekränkt, dass er trotz seines überzeugenden Siegs im Wahlkollegium nicht die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler hinter sich hatte.
So verhält er sich auch jetzt. Schon Monate vor der Wahl wetterte er gegen die "betrügerische" Briefwahl. Die ist ziemlich sicher und im übrigen eine über 150 Jahre alte US-Erfindung. Der wahre Grund ist, dass Briefwähler*innen mit überwältigender Mehrheit demokratisch wählen. Kurz vor der Wahl sagte Trump, er könne nur durch Betrug verlieren. Während der Auszählung erklärte er sich zum Wahlsieger, und nachdem alle Nachrichtensender den Sieg Bidens verkündet hatten, setzte er rund 90 Twitter-Nachrichten ab, die von Wahlbetrug und gestohlenen Stimmen handelten. Selbstverständlich stemmt er sich auch gegen die "Transition", die gesetzlich geregelten Übergangsbestimmungen. Die sind in den USA dringend nötig, denn ein Machtwechsel bedeutet "tabula rasa". Es werden nicht wie etwa in Deutschland nur Minister und politische Staatssekretäre ausgetauscht, sondern fast der gesamte Beamtenapparat. Der Präsident kann rund 9000 Positionen neu besetzen. Bidens Team hat bisher keinen Zugang zu Geldern und Informationen. Sie kann sich nur unzulänglich auf die kommenden Aufgaben vorbereiten.
Dass Trump damit die Sicherheit der USA gefährdet, ist nur eine Seite des absurden Theaters. Dass er die Demokratie gefährdet, indem er ihre Institutionen und Regeln missachtet eine andere. Man kann zur Not darüber hinwegsehen, denn das hat er nun fast vier Jahre lang getan. Wirklich schlimm ist, dass er Zwietracht sät. Gut zwei Drittel seiner Wähler glauben inzwischen, dass die Wahl "gestohlen" wurde, die meisten von ihnen wollen einen Präsident Biden nicht akzeptieren, und viele von ihnen sind bis an die Zähne bewaffnet. Noch schlimmer ist, dass die Republikanische Partei da mitzieht. Bisher haben nur ausgewiesene Trump-Gegner in der Partei Biden zum Sieg gratuliert: darunter Ex-Präsident George W. Bush, sein Bruder Jeb und Mitt Romney, beides ehemalige Präsidentschaftskandidaten. Der große Rest schweigt oder folgt Trumps haltlosen Behauptungen. Bei seiner jüngsten Pressekonferenz, die im Falle des Präsidenten normalerweise unkommentiert und in voller Länge übertragen wird, haben sich viele Nachrichtensender ausgeklinkt. Trumps Lieblingsmedium Twitter kennzeichnet dessen Tweets inzwischen mit Warnhinweisen. Sie alle wollen dessen Lügen nicht mehr weiterverbreiten.
Bisher wurden alle Klagen gegen mutmaßlichen Wahlbetrug von den zuständigen Gerichten abgewiesen. Juristen und politische Beobachter halten die Chance für gering, dass weitere Erfolg haben und Neuauszählungen das Ergebnis in einem Bundesstaat wesentlich ändern werden. Selbst Familienmitglieder wie Trumps Frau Melania und sein Schwiegersohn Jared Kushner sollen dem Präsidenten geraten haben, die Niederlage einzugestehen.
Natürlich hat Trump nicht die Größe oder die intellektuellen Fähigkeiten seines verstorbenen Parteikollegen John McCain, der seinem Gegner Barack Obama 2008 nach einem erbitterten Wahlkampf zum Sieg gratulierte, und ihn als "seinen Präsidenten" bezeichnete. Donald Trump hätte dennoch die Chance auf einen ehrbareren Abgang gehabt. Er hat mit über 72 Millionen Stimmen das zweitbeste Ergebnis eines Präsidentschaftskandidaten eingeholt. Mit einem Dank an alle und einem "Wir kommen wieder" hätte er sich ohne Gesichtsverlust verabschieden können.
Trumps Verhalten ist psychopathisch. Man möchte dem Ökonomen Jeffrey Sachs zustimmen, der den Präsidenten mit einem "psychisch gestörten Kind" vergleicht, das um sich tritt und schreit. Aber da ist noch etwas anderes. Ein eiskaltes politisches Kalkül. Biden hat in seiner Siegesrede angekündigt, Amerika wieder einen zu wollen. Das wird für ihn und seine Vize Kamala Harris, der ersten Frau und Farbigen in diesem Amt, durch das "gestörte Kind", das noch 70 Tage im Amt sein wird, nahezu unmöglich gemacht. Trump will verbrannten Boden hinterlassen, und er hat schon einen Großteil des politischen Terrains verbrannt. Dass die Republikaner wohl die Mehrheit im Senat verteidigen und im Repräsentantenhaus Zugewinne verbuchen können, wird Bidens Anliegen zusätzlich erschweren.
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