Von Ulf Mauder
Michail Gorbatschow kommt auch mit 90 Jahren nicht zur Ruhe. Trotz Krankenhaus-Aufhalten und weitgehender Isolation wegen der Corona-Pandemie meldet sich der Friedensnobelpreisträger oft zu Wort - mit seinen Sorgen um den Zustand der Welt. "Nur keinen Krieg zulassen", sagt der frühere Sowjetpräsident in einem aktuellen, auf seiner Internetseite gorby.ru veröffentlichten Interview. "Frieden erhalten und eine Verbesserung des Lebens der Menschen erstreben!" Was er sich wünsche zu seinem Geburtstag am kommenden Dienstag (2. März) "Freundschaft und Unterstützung", antwortet er.
Erleichtert ist "Gorbi", wie ihn die Deutschen achtungsvoll nennen, nicht zuletzt, weil US-Präsident Joe Biden und Kremlchef Wladimir Putin den letzten großen nuklearen Abrüstungsvertrag - New Start - der beiden größten Atommächte gerade noch gerettet haben. Nach seinem Machtantritt 1985 als Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion leitete Gorbatschow in den 1980ern mit den USA weitreichende Abrüstungsinitiativen ein. Manches davon kündigte Washington zuletzt auf. Gorbatschow bedauert dies und mahnt neue, größer angelegte Abrüstungsinitiativen an.
Zu seinem Jubiläum schaut der erste und letzte Sowjetpräsident auf viele geopolitische Großtaten zurück: auf die Deutsche Einheit, die er damals mit Kanzler Helmut Kohl aushandelte und damit auch den Kalten Krieg beendete - und auf seine Politik von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung), mit der er die Menschen einst von kommunistischer Gewaltherrschaft befreite.
Bis heute gilt Gorbatschow als Freiheitssymbol, als jener Kremlchef, der nicht nur das Ende der DDR und die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte. Er überließ auch andere von Moskau bevormundete Ostblock-Staaten ihrem selbstbestimmten Schicksal. Zusehen musste er letztlich, wie sich in der Wende schließlich die baltischen Staaten von der Sowjetunion lossagten - und wie am Ende das gesamte von Moskau mit Gewalt erhaltene kommunistische Imperium zusammenbrach.
Während die Deutschen ihn mit "Gorbi!, Gorbi"-Rufen empfingen und er insgesamt im Ausland immer beliebter wurde, verlor er im eigenen Land zunehmend an Autorität, wurde "zum Getriebenen, der seine gestalterische Rolle verloren hatte", wie der Autor Ignaz Lozo in der neuen großen Biografie zum 90. Geburtstag mit dem Titel "Gorbatschow. Der Weltveränderer" (Wissenschaftliche Buchgesellschaft wbg) schreibt. "Sein Fehler war dabei, dass er immer noch auf die Kommunistische Partei setzte (...)."
Bis heute verachten viele Russen Gorbatschow als "Totengräber" der Sowjetunion, der die stolze Weltmacht, die im Zweiten Weltkrieg den Hitlerfaschismus besiegt hatte, erniedrigte und am Ende zerstörte. 30 Jahre ist das in diesem Jahr her. Und es war auch Gorbatschows Ende als mächtigster Mann in Moskau, als 1991 Boris Jelzin nach einem Putsch die Macht übernahm.
In seiner Gorbatschow-Biografie gibt Lozo die politischen und persönlichen Lebensstationen des Politikers wieder, darunter auch die Rolle seiner früh an Krebs gestorbenen Frau Raissa. Der Autor, der als Journalist den Politiker mehrfach traf, zeichnet ein persönliches Porträt des Mannes, der von einem strammen Parteifunktionär mit vielen Privilegien schon in seiner Heimatregion Stawropol zu einem der größten Reformer des 20. Jahrhunderts wurde.
"Gorbatschow hat mehr als 164 Millionen Menschen in die Freiheit entlassen: 38 Millionen Polen, fast 16 Millionen Tschechen und Slowaken, 23 Millionen Rumänen, jeweils fast neun Millionen Bulgaren und Ungarn sowie rund 16 Millionen Deutsche in der DDR", schreibt er. Gescheitert sei er aber mit seinem Ziel, die Sowjetunion zu erhalten. Die desolate Wirtschaftslage zwang den kommunistischen Machtblock letztlich in die Knie, auch weil die von ihren Rohstoffverkäufen abhängige Sowjetunion durch den niedrigen Ölpreis kaum noch Einnahmen erzielte. Gorbatschow, resümiert Lozo, habe von Wirtschaftsfragen wenig verstanden und sei deshalb wankelmütig und zaudernd gewesen.
Als schwachen Anführer, wie viele Politiker ihn heute in Russland darstellen, sieht Lozo Gorbatschow allerdings nicht. In seinem Buch geht er den Machtkämpfen und Intrigen im Kreml nach - und kommt zu dem Schluss, dass sich Gorbatschow trotz aller Probleme - wie der sowjetische Krieg in Afghanistan und die Atomkatastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl - durchgesetzt habe gegen seine Widersacher. "Wäre Gorbatschow ein schwacher Staatslenker gewesen, hätte er dem Widerstand der Hardliner in der sowjetischen Politik nachgegeben."
Lozo berichtet nach einem Treffen mit Gorbatschow, dass er auf die Vorwürfe, das Sowjetimperium zerstört zu haben, selbstbewusst, ruhig und allenfalls etwas melancholisch geantwortet habe: "Ach, ich weiß für mich, was ich alles Gute vollbracht habe."
Für den demokratisch gesinnten Teil der russischen Gesellschaft bleibt Gorbatschow auch mit seiner politischen Stiftung und als Miteigentümer der kremlkritischen Zeitung "Nowaja Gaseta" eine wichtige Stimme. Zwar lobt er Kremlchef Putin immer wieder für dessen außenpolitischen Kurs, darunter auch die Einverleibung der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Immer wieder kritisiert er aber auch die zunehmenden Repressionen gegen Andersdenkende unter Putin - und warnt vor einem Rückfall in die Diktatur.
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