Von Andreas Rabenstein
Die losstürmenden Demonstranten können es zunächst kaum fassen, wie leicht sie zum Zentrum der Demokratie vordringen. Zu Dutzenden rennen sie am Samstagabend gegen 19 Uhr auf das imposante Reichstagsgebäude in Berlin zu, überklettern Absperrgitter oder stoßen sie um, laufen die Treppen zum Besuchereingang auf der Westseite hoch und stehen jubelnd und kreischend auf dem Absatz vor den verschlossenen Glastüren, hinter denen ein Pförtner sitzt. "Wahnsinn, Wahnsinn", schreit ein Mann in einem der Videos, die sich schnell im Internet verbreiten.
300 bis 400 Menschen stehen schließlich triumphierend auf der großen Treppe. Diese Zahl nennt die Polizei am Sonntag in ihrer Bilanz. Es sind Männer und Frauen, Junge und Ältere sind dabei, es ist keine einheitliche Szene. Viele sind wohl einfach spontan mitgerannt, wie in den Videos zu sehen ist. Einige Männer schwenken die schwarz-weiß-rote Fahne des deutschen Kaiserreichs, ein Symbol der Reichsbürger-Szene, die die Bundesrepublik ablehnt. Auch deutsche, russische, amerikanische Fahnen und Transparente sind zu sehen, so wie schon zuvor an der russischen Botschaft, wo es eine Versammlung der Reichsbürger gab.
Die Demonstranten filmen sich gegenseitig. "Wir sind das Volk" ist zu hören, aber auch rechtsextreme Beschimpfungen und der bekannte Schlachtruf dieser Szene: "Widerstand". Von hinten ruft ein Mann: "Wir sind friedlich, wir sind friedlich." Zwischen Eingang und aufgeheizter Menge stehen in diesem Moment nur noch drei Polizisten, die ihre Schlagstöcke schwenken und die Menschen auf Abstand halten. Schließlich eilen von den Seiten zahlreiche weitere Polizisten herbei, sprühen Pfefferspray in die Menge und drängen sie die Stufen hinunter. "Ein Eindringen in den Reichstag war den Personen daher nicht möglich", so die Polizei.
Knapp 40.000 Menschen aus ganz Deutschland hatten nach ersten Schätzungen der Polizei vom Samstag weitgehend friedlich auf der Straße des 17. Juni gegen die Corona-Politik demonstriert. Insgesamt waren laut Polizei noch deutlich mehr Demonstranten bei weiteren Veranstaltungen in der Innenstadt unterwegs. Eine endgültige Gesamtzahl nennt die Polizei auch am Sonntag nicht.
Zwar hielten sich viele nicht an die Mindestabstände zum Infektionsschutz, aber die Stimmung in der recht bunten Menge der Demonstranten aus ganz Deutschland blieb friedlich. Am Nachmittag griffen dann Reichsbürger und Rechtsextremisten aus einer großen Menschenmenge vor der russischen Botschaft die Polizei mit Stein- und Flaschenwürfen an. Insgesamt wurden 33 Polizisten verletzt und 316 Menschen festgenommen. Dabei ging es um Angriffe auf Polizisten, Widerstand, Gefangenenbefreiung, Beleidigung, Körperverletzung und Verstöße gegen das Waffengesetz. Die Bilder von dem Vordringen auf die Treppe vor dem Reichstag überdecken am Samstagabend und Sonntag aber alles andere.
Videos der Szenen werden im Internet mehr als eine Million Mal aufgerufen. Im Stundentakt äußern sich - abgesehen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) - Spitzenpolitiker. Der Bundespräsident meldet sich, was bei Demonstrationen sonst eher nicht üblich ist. Frank-Walter Steinmeier teilt mit: "Reichsflaggen und rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag sind ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie." Für den Montag hat er einige der Polizisten zu einem Treffen eingeladen. Der Präsident und Hausherr des Bundestags, Wolfgang Schäuble (CDU), fordert eine schnelle Aufarbeitung.
Warum die Aufregung über einen Vorfall, bei dem es keine Gewalt und keine Verletzten gab, so groß ist, erklärt Innenminister Horst Seehofer (CSU), der vom "symbolischen Zentrum unserer freiheitlichen Demokratie" spricht. "Dass Chaoten und Extremisten es für ihre Zwecke missbrauchen, ist unerträglich." Auch die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel nennt die Vorfälle "inakzeptabel".
Der Demonstrations-Veranstalter Michael Ballweg von der Stuttgarter Initiative Querdenken distanziert sich von den Krawallmachern und Rechtsextremisten. Querdenken sei eine friedliche und demokratische Bewegung. Die Schuld sehe er beim Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD). "Warum ist er nicht in der Lage, das Gebäude zu schützen?"
Nun ist für die konkrete Einsatztaktik vor Ort weniger ein Innensenator als die Polizei zuständig. Warum die Berliner Polizei, die den ganzen Tag lang 3000 Beamte aus verschiedenen Bundesländern dirigierte, ausgerechnet vor dem Reichstag so peinlich überrascht und überrannt wird, erklärte sie am Sonntag zunächst nicht.
Polizeisprecher Thilo Cablitz hatte am Samstagabend nur gesagt: "Wir können nicht immer überall präsent sein, genau diese Lücke wurde genutzt, um hier die Absperrung zu übersteigen, zu durchbrechen." Innensenator Geisel ging gar nicht erst näher auf die gravierende Panne ein. Er sieht sich bestätigt, weil er vor demonstrierenden Rechtsextremisten gewarnt hatte. Die Polizei habe "diesen Spuk schnell beendet", erklärt er dann. "Die Einsatzkräfte waren unmittelbar vor Ort."
Ganz so überzeugend sehen das offenbar nicht alle. Derzeit prüft der Ältestenrat des Bundestags, ob die Sicherheitsmaßnahmen vor dem Parlament verschärft werden sollten. Übereilte Entscheidungen will man aber nicht treffen. (dpa)
Comentários