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Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Im Blickfeld: Stimmungswechsel?

Von Wim van Geenen

Wahlkämpfe in Verbindung mit Hochwasser haben in Deutschland eine besondere Dynamik: Helmut Schmidt machte sich 1962 als Krisenmanager in der Hamburger Sturmflut einen Namen; Gerhard Schröder rettete 2002 seinen Wahlkampf, indem er sich während des Elbehochwassers medienwirksam als „Macher“ in Gummistiefeln inszenierte. Auch Angela Merkel begab sich 2013 auf Wahlkampftour ins Überschwemmungsgebiet, allerdings in Halbschuhen. Lange schien es, als wären Gummistiefel vor dramatischer Kulisse beinahe eine Garantie für den Wahlsieg.

Nach dem Jahrhunderthochwasser der vergangenen Woche ist die Situation eine andere. Die Flutschäden sind noch nicht beseitigt, der Wahlkampf nimmt dennoch Fahrt auf. Auch wenn alle Seiten (zurecht) betonen, dass schnelle Hilfe wichtiger sei als politisches Kalkül, ist davon auszugehen, dass in den Partei- und Wahlkampfzentralen sehr wohl darüber nachgedacht wird, wie sich das Hochwasser mit der jeweiligen Strategie vereinbaren lässt. Den Kandidaten ist klar: Offensichtlich gestellte „Gummistiefelbilder“ reichen dieses Mal nicht mehr, um den bis jetzt wenig dynamischen Wahlkampf zu gewinnen. Dafür war der Vertrauensverlust der vergangenen Jahre zu groß. Außerdem hat sich die politische Großwetterlage geändert: Nach drei Jahren „Fridays for Future“ und einer weltweit spürbaren Zunahme von Waldbränden, Dürren und Überschwemmungen könnte der diesjährige Bundestagswahlkampf trotz Pandemie zum Klimawahlkampf werden.

Das stellt die Kandidaten vor verschiedene Probleme: Während SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz als Finanzminister zumindest Hilfsgelder verteilen kann, muss CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet aufpassen, dass ihm sein bisher wenig glaubhaftes Engagement als Klimaschützer in einem möglichen Klimawahlkampf nicht zum Verhängnis wird. Laschet, zugleich Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, kann in Anbetracht der Situation nicht anders, als die Unglücksorte in seinem Bundesland schnell zu besuchen. Er muss dort präsent sein. Diese für Politiker eigentlich wünschenswerte Präsenz kann für ihn jedoch unangenehm werden: Auf den Klimaschutz angesprochen, gerät er unter Druck. Auch wenn politische 180-Grad-Wenden der CDU schon seit Jahren niemanden mehr überraschen, stellte Laschet angesichts der Überschwemmungen am vergangenen Donnerstag neue Spitzenzeiten auf: Im Nachrichtenticker der Tagesschau lagen zwischen den Meldungen „Laschet bremst“ und „Laschet fordert mehr Tempo beim Klimaschutz“ genau zwei Stunden und elf Minuten.

Es rächt sich nun, dass die CDU das Thema „Klima“ über Jahrzehnte (wenn überhaupt) nur stiefmütterlich behandelte. Obwohl Wissenschaftler bereits seit den 90er-Jahren vor einer Klimakatastrophe warnen, zog die Partei es vor, Wahlkämpfe für Parkplätze, Inlandsflüge und Braunkohle zu führen. Eine plötzliche Begeisterung des Kohleministerpräsidenten Laschet für den Klimaschutz ist daher kaum glaubhaft zu vermitteln.

Zur ohnehin verfahrenen Lage kam noch ein grob unangemessener Auftritt: Während Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Rede Betroffenheit ausdrückte, scherzte der CDU-Kandidat vor laufenden Kameras mit einer Herrenrunde im Hintergrund. Fotos zeigen ihn lachend, das Gesicht seines nebenstehenden Pressesprechers spricht Bände - es wirkt, als hätte er das mediale Debakel bereits vor Augen.

Anders als Laschet ging Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock während des Hochwassers auf Tauchstation. Zwar besuchte sie die Überschwemmungsgebiete, allerdings ohne den üblichen Pressetross. Das hat gute Gründe: Einerseits kann sie ohne Amt ohnehin nichts zur Linderung der Situation beitragen, andererseits muss sie um jeden Preis den Eindruck vermeiden, politisches Kapital aus der Katastrophe schlagen zu wollen. Vermutlich weiß Baerbock, die im Gegensatz zu Laschet weder Gelder verteilen, noch Hilfskräfte delegieren kann, dass ihr jeder überflüssige Gummistiefelauftritt als reines Wahlkalkül angelastet werden würde. Daher ist Fingerspitzengefühl gefragt, zumal ein „Fukushima-Effekt“ wie bei der Baden-Württembergischen Landtagswahl 2011 vermutlich nicht eintreten wird - Nordrhein-Westfalen ist nicht Japan, die Katastrophe ist zu konkret, um sich direkt in Wählerstimmen zu übersetzen.

Die Grünen stecken dahingehend in einer misslichen Lage: Wo sie die Union beim Thema Klimaschutz gemütlich vor sich hertreiben könnten, gilt es nun Zurückhaltung zu wahren, um die ohnehin geschwächte Kandidatin nicht noch weiter zu beschädigen. Dennoch dürfen sie ihren Markenkern nicht anderen überlassen. Nicht nur Markus Söder hat mittlerweile erkannt, dass Klimaschutz, sei er ernstgemeint oder reine Fassade, derzeit in vielen Wählerschichten gut ankommt. Es liegt nun an den Grünen, sich bis September nicht im Wahlkampf zerreiben zu lassen.

Von Seiten der Wissenschaft ist es heute unumstritten, dass die verheerende Häufung extremer Wetterlagen eine Folge des menschengemachten Klimawandels ist. Deshalb ist vollkommen klar, dass es nach den Aufräumarbeiten um mehr als Frühwarnsysteme und Finanzhilfen gehen muss. Insbesondere die Union muss sich entscheiden, ob sie das Thema Klimaschutz endlich ernsthaft behandelt oder weiterhin mit grünem Anstrich klimaschädliche Industrien hofiert.

Die Katastrophe hat ein weiteres Mal gezeigt, dass die besten Wirtschaftsdaten nichts wert sind, wenn die Symbole des Wohlstands hinterher in den Fluten versinken. Es ist daher zu hoffen, dass der bisher vor allem auf die Kandidaten ausgerichtete Wahlkampf zum Klimawahlkampf wird. Das Hochwasser und seine Ursachen nach den Aufräumarbeiten auf die politische Agenda zu setzen ist weder zynisch noch vermessen - wirklich zynisch wäre es, sich nach einer Jahrhundertkatastrophe weiter an Laschets Lachern oder Baerbocks Buch abzuarbeiten.


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