Von Stefan Kuhn

Wenn ich derzeit durch die Straßen von Buenos Aires laufe, kommen Bilder aus meiner Anfangszeit in Argentinien auf. In den 1990er-Jahren war es Mode, den Motorradhelm in der Armbeuge oder - noch schlimmer - zur Stirn hochgezogen zu tragen. Ich zweifelte an der Intelligenz der Motorradfahrer, verstand aber allmählich, dass dies die argentinische Interpretation der Helmpflicht war. Wie oder wo der Kopfschutz getragen werden sollte, stand vermutlich nicht im Gesetz. So ähnlich sieht es heute beim Corona-Mundschutz aus. "Oben ohne", das heißt nasenfrei, ist die verbreitetste Variante, aber viele nutzen die Schutzmaske als Kinnwärmer. Verständlich bei den derzeitigen Temperaturen, aber nutzlos für eine Eindämmung des Virus.
Zugegeben, ganz stimmig ist der Vergleich nicht. Wer seinen Helm in der Armbeuge trägt, der hat sein Hirn im Ellenbogen, wer ihn über die Stirn schiebt, kann sich schon bei einem leichten Sturz das Genick brechen. Aber in beiden Fällen gefährdet der Helmmuffel nur sich selbst. Mund- und Nasenschutzverweigerer gefährden hauptsächlich andere. Untersuchungen (AT v. 3.7.) haben ergeben, dass selbst einfache Masken die Verbreitung von Aerosolen auf wenige Zentimeter begrenzen. Mund- und nasenfrei könnte ein Infizierter die Viren bis zu sechs Meter weit schleudern.
Maskenmuffel sind allerdings kein argentinisches Problem. Im Gegenteil, hierzulande wird die Maskenpflicht akzeptiert, nur eben wie bei vielen Gesetzen und Vorschriften besonders individuell interpretiert. In anderen Ländern ist die Maskenverweigerung Staatsdoktrin. US-Präsident Donald Trump hält den Mundschutz für "unamerikanisch", man zeigt dem Feind sein Gesicht, auch wenn gerade dies dem Feind entgegenkommt. Brasilien Staatschef Jair Bolsonaro trat bei einer Pressekonferenz, bei der er seine eigene Covid-19-Erkrankung bekanntgegeben hat, ohne Schutz auf. Das grenzt schon an Körperverletzung. Einige der beteiligten Journalisten haben ihn deswegen angezeigt. Zu Recht.
Auch in anderen Ländern gibt es überzeugte Mundschutzgegner. Manchmal führt das zu gewaltsamen Exzessen. In Frankreich wurde ein Busfahrer erschlagen, der Fahrgäste zum Mundschutztragen aufgefordert hatte. In Deutschland erklären Menschen vor laufenden Kameras, dass sie die Mundschutzpflicht für eine Einschränkung ihrer Grundrechte halten. Doch das sind Minderheiten, Spinner oder vom Quarantänekoller enthemmte Gewalttäter. In den USA und Brasilien sind es Zigmillionen, die ihren Präsidenten wie Lemminge in den Abgrund folgen. Das mag übertrieben klingen, aber wenn man sich die Infektionszahlen und Todesopfer ansieht, stellt man fest, dass sich alleine auf die beiden Länder weltweit über 40 Prozent der Corona-Infizierten und 36 Prozent der Todesopfer verteilen.
Natürlich ist die Maske ein kulturelles Problem, allerdings kein kulturhistorisches Phänomen. In Ostasien kommen die Menschen auch nicht mit Masken auf die Welt. Der Mundschutz hat sich dort in den letzten zwei, drei Jahrzehnten durchgesetzt. Horrende Luftverschmutzung in den Metropolen und Epidemien haben dazu geführt, dass die Bevölkerung diese Schutzmaßnahme akzeptiert. Heute schütteln Chinesen, Japaner oder Koreaner den Kopf darüber, dass in Europa oder Amerika über Schutzmasken diskutiert wird. Sie haben Recht, denn die Zahlen geben ihnen Recht. Es ist schon erschreckend, dass in Schweden mehr Menschen an Covid-19 gestorben sind als in China, obwohl dort über 100 Mal mehr Menschen leben. Zahlen aus einem totalitären System wie es die Volksrepublik hat, darf man nicht für bare Münze nehmen, aber es ist offensichtlich, dass Länder mit strikter Maskenpflicht besser mit der Krise zurechtkommen. Je schneller man die Krise in den Griff bekommt, desto schneller beginnt auch die wirtschaftliche Erholung.
Die Maske allein führt selbstverständlich nicht zur Überwindung der Pandemie. Abstand und Hygiene sind ebenfalls wichtig. Zu Beginn der Pandemie setzte man in vielen westlichen Ländern vor allem auf die letzten beiden Maßnahmen. Die Effektivität von Masken wurde heruntergespielt. Das war zwar keine direkte Fehlinformation, aber eine gezielte Halbwahrheit. Masken bieten großen Schutz, wenn möglichst viele Menschen sie tragen. In Deutschland waren beispielsweise zu wenig Masken vorhanden, um die Bevölkerung flächendeckend zu versorgen. Man verzichtete zunächst auf eine Empfehlung, um zumindest das medizinische Personal ausreichend einzudecken. In vielen westlichen Ländern waren die Menschen allerdings skeptisch. Sie kauften massenweise Masken. Auch in Argentinien war der einfache medizinische Mundschutz schon ausverkauft, bevor es eine Maskenpflicht gab. Später stieg der Preis zeitweilig von 5 auf 100 Pesos für ein Exemplar, das man nach einem Tag hätte entsorgen müssen. Dennoch hört man auch heute noch vielfach das Argument, Masken böten keinen ausreichenden Schutz.
Das Gegenteil ist der Fall. Schutzmasken sind die einfachste und preiswerteste Art, die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Man muss keine Geschäfte zusperren, die nicht "systemrelevant" sind. Man muss keine Spaziergänge verbieten. Abgesehen von Bordellen, Diskotheken und Schwimmbädern könnten fast alle Lokalitäten geöffnet werden, wenn Mundschutz, Abstand und Hygiene gewährleistet sind. Dies müsste kontrolliert und Verstöße sanktioniert werden. In vielen Ländern funktioniert das, in Argentinien oder besser in Groß-Buenos Aires weniger. Hier werden Menschen verwarnt oder bestraft, die sich ohne Autorisierung zu weit von ihrer Wohnung aufhalten, aber sich und andere schützen. Sie tragen weniger zur Verbreitung des Virus bei wie die Kunden und Kundinnen, die sich an der Fleischtheke des Supermarkts die Maske runterziehen und an den Paketen schnüffeln.
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