Von Stefan Kuhn
Ein bisschen aufatmen kann man schon. In der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen liegt der Amtsinhaber Emmanuel Macron doch deutlicher vor seiner Dauerrivalin Marine Le Pen, als es die letzten Umfragen andeuteten. Macron kam auf fast 28 Prozent, Le Pen hat einen Abstand von etwa fünf Prozentpunkten. Vor fünf Jahren waren es lediglich 2,7 Prozentpunkte. Macron hat gute Chancen auf eine zweite Amtszeit, dennoch ist die Ausgangslage vor der Stichwahl nicht ganz so rosig.
Zum einen bröckelt die republikanische Front, die einen Wahlsieg der Ultranationalisten bisher erfolgreich verhindert hat. Vor 20 Jahren kam mit Jean-Marie Le Pen, dem Vater von Marine, erstmals ein Rechtsextremer in die Stichwahl. Le Pen lag damals hauchdünn vor dem Sozialisten Lionel Jospin. Im 2. Wahlgang siegte der konservative amtierende Staatschef Jacques Chirac mit 82,2 Prozent der Stimmen. Le Pen konnte in der zweiten Runde lediglich einen mageren Prozentpunkt hinzugewinnen. Le Pens Erfolg im ersten Durchgang hatte einen politischen Schock verursacht. Die Wahlbeteiligung in der Stichwahl stieg um acht Prozentpunkte, selbst Linkssozialisten stimmten für den stramm konservativen Chirac. Damals kamen allerdings die bisher im ersten Wahlgang dominierenden Sozialisten (Mitte-Links) und Konservativen noch auf fast 40 Prozent der Stimmen.
Als mit Marine Le Pen 2017 zum zweiten Mal eine Ultrarechte den Einzug in die Stichwahl schaffte, hatte sich die Ausgangslage schon deutlich verändert. Le Pen verbesserte das Ergebnis ihres Vaters und kam auf über 21 Prozent. Der Stimmenanteil von Sozialisten und Konservativen schrumpfte auf 26 Prozent. Beide galten als sichere Kantonisten der republikanischen Front und riefen für den zweiten Wahlgang zur Wahl Macrons auf. Das war rein rechnerisch schon die absolute Mehrheit für Macron. Dass dieser in der Stichwahl beeindruckende 66 Prozent schaffte, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Marine Le Pen ihren Stimmenanteil um zehn Prozentpunkte steigern konnte. Sie hatte die ultrarechte Front National umbenannt, gemäßigtere Töne angeschlagen und den Stimmenanteil ihres Vaters verdoppelt. Nach der Wahl vom Sonntag hat sie eine deutlich bessere Ausgangslage.
Dass Le Pen ihr Erstrundenergebnis nur unwesentlich steigern konnte, ist wenig aussagekräftig, denn rechts von ihr gab es mit Eric Zemmour einen weitaus radikaleren Kandidaten. Zemmour erreichte einen Stimmenanteil von sieben Prozent. Auf seine Wählerschaft kann sie zählen. Dass Macron durch die Wahlempfehlungen der in der ersten Runde gescheiterten Kandidaten und Kandidatinnen mit 40 Prozent rund zehn Prozentpunkte vor ihr liegt, ist dabei keine sichere Bank. Sozialisten und Konservative, die lange dominierenden Parteien PS und Republikaner, kommen nur noch auf einen Stimmenanteil von sieben Prozent. Inzwischen wird das französische Parteiensystem von drei nahezu gleichstarken Blöcken dominiert, die sich spinnefeind sind: Macrons Liberale, die Ultranationalisten (Le Pen und Zemmour) und die Linkssozialisten (Jean-Luc Mélenchon & Co.). Mélenchon konnte sich wie vor fünf Jahren nicht zu einer Wahlempfehlung für Macron durchringen. Er hat lediglich dazu aufgerufen, Le Pen keine Stimme zu geben.
Das kann Stimmen für Macron bedeuten, Enthaltungen oder einen Rückgang der Wahlbeteiligung in der zweiten Runde. Die letzteren Optionen dürften Le Pen nützen, denn sie hat eine höhere Mobilisierungskraft als ihr Kontrahent. Macron ist nicht mehr der frische Erneuerer. Er hat sich in den fünf Jahren entzaubert, gilt als arrogant, überheblich und unnahbar. Der frühere PS-Parteigänger und Wirtschaftsminister (2014-16) ist politisch nach rechts abgedriftet und für Mélenchon-Anhänger*innen eigentlich nicht wählbar. Für Le Pen gilt das nicht. Schon vor fünf Jahren hat sie Mélenchon-Stimmen bekommen. Jetzt dürfte sie noch bessere Chancen haben, denn im Wahlkampf hat sie stark auf die soziale Karte gesetzt. Die monatelangen Proteste der "Gelbwesten" gegen Macrons Sozialpolitik sind noch gut in Erinnerung. Viele von denen, die sich in der ersten Runde für Mélenchon entschieden haben, dürften sich von Le Pen besser vertreten sehen.
In den Umfragen nach der Wahl liegt Macron zwischen 52 und 54 Prozent, eine sichere Bank für die Stichwahl ist das nicht. Das Ergebnis des Brexit-Referendums 2016, bei dem die Umfragen noch am Wahltag eine Mehrheit von 52 Prozent für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU prognostizierten, spricht Bände. Ebenso die US-Präsidentschaftswahlen 2016. Die demokratische Kandidatin Hillary Clinton lag in allen Umfragen deutlich vor ihrem Gegner Donald Trump. Präsident wurde Trump.
In beiden Fällen gilt eine russische Einflussnahme auf die Abstimmung als erwiesen. Bei den französischen Präsidentschaftswahlen wäre das ebenfalls naheliegend, denn Le Pen gilt als ausgesprochen Putin-nah. Bei der Wahl vom Sonntag dürfte das jedoch nicht der Fall gewesen sein. Hätte sich Moskau eingemischt, wäre das kontraproduktiv gewesen. Mit Putin-Nähe kann man derzeit keine Wahlen gewinnen. Andererseits überrascht es, dass Macron nicht vom Ukraine-Krieg profitiert hat. In derartigen Krisensituationen dominiert in der Regel die weltpolitische Kompetenz, und in dieser Hinsicht hat Macron eindeutige Vorteile.
Bei der Stichwahl in gut einer Woche geht er als Favorit ins Rennen, wenn es gut geht, könnte er sogar in die Nähe der 60-Prozent-Marke kommen. Aber eines ist sicher: Die republikanische Front gibt es nicht mehr. Das könnte sich schon bei den nächsten Parlamentswahlen oder spätestens bei den Präsidentschaftswahlen in fünf Jahren zeigen.
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