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  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Im Blickfeld: Reformbedarf

Von Stefan Kuhn

Es hat funktioniert. Das demokratische System der Vereinigten Staaten von Amerika hat den Anschlag des noch amtierenden Präsidenten Donald Trump überstanden. Der Wahlsieger Joe Biden wurde mit 306 zu 232 Stimmen zum Präsidenten gewählt. Es gab keine Abweichler im Gremium der Wahlleute. Doch das hat weniger mit dem System und seinen Regeln zu tun als mit Glück, Anstand und vielleicht auch einer gehörigen Portion Angst. Angst, weil man sich gar nicht vorstellen kann, was passiert wäre, wenn Biden um seinen Sieg betrogen worden wäre. Anstand, weil maßgebliche Mitglieder aus Trumps eigener Partei, Gouverneure und Wahlleiter in Bundesstaaten, sich an demokratische Spielregeln hielten. Und Glück, weil das politische System anfällig für Schiebereien ist.

Anfangen könnte man hier bereits bei der Gewaltenteilung, auf die die viel bemühten "checks an balances" beruhen. Demokratische Kontrolle kann nicht funktionieren, wenn eine Partei im Obersten Gericht eine Zweidrittelmehrheit hat und gegebenenfalls Wahlen entscheiden kann. Dazu kommt, dass dieses Gericht auf Grundlage einer interpretationsoffenen Verfassung entscheidet, die in den letzten zwei Jahrhunderten kaum geändert wurde. Über die Besetzung des Obersten Gerichts und die Ernennung von Bundesrichtern bestimmt zudem eine Länderkammer, der Senat, die in keinster Weise repräsentativ für die öffentliche Meinung im Land ist. Der Senat hat auch das letzte Wort über die Besetzung von Ministerposten und eventuelle Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten. Für eine Länderkammer, in der Bundesstaaten wie Kalifornien (40 Mio. Einwohner) und Wyoming (585.000) dasselbe Gewicht haben, ist das zu viel der Macht.

Proporz ist auch ein Problem des "repräsentativen" Wahlsystems, wenn auch ein kleineres. Im Repräsentantenhaus "repräsentiert ein Abgeordneter aus Rhode Island etwa 530.000 Bürger*innen, in Montana fast eine Million. Deutlich disproportionaler sieht die Verteilung der Wahlleute aus, die den Präsidenten wählen. In Wyoming kommt eine Stimme auf 165.000 Bürger*innen, in Kalifornien sind es 615.000.

Wenn es mit dem Senat schon so eine starke Länderkammer gibt, könnte man zumindest das Abgeordnetenhaus etwas repräsentativer gestalten. Das in den USA angewandte Mehrheitswahlrecht sorgt schon für genug Verzerrungen. Dort entscheiden nämlich die Bundesstaaten über die Wahlkreiseinteilung. "Gerrymandering", benannt nach dem Gouverneur Elbridge Gerry, der 1812 in Massachusetts Wahlkreise zugunsten seiner Partei gestaltete. Einer hatte die Form eines Salamanders. In den letzten beiden Jahrzehnten forcierte vor allem die Republikanische Partei für sie günstige Wahlkreiseinteilungen.

Dass das Mehrheitswahlrecht auch bei den Präsidentschaftswahlen gilt, ist eine Pervertierung des demokratischen Grundgedankens. Zum einen ist es auch für eine deutliche Mehrheit der US-Bürger*innen unverständlich, dass nicht die- bzw. derjenige Präsident*in wird, welche*r die meisten Stimmen bekommt, sondern die- oder derjenige, welche*r die meisten Wahlleute hinter sich hat. Wer einen Bundesstaat gewonnen hat, egal mit welcher Mehrheit, bekommt alle Wahlleute-Stimmen dieses Staates. Weil das Gros der Bundesstaaten fest in der Hand einer der beiden Parteien ist, beschränkt dieses "Winner-takes-all"-Prinzip die politische Partizipation. Warum sollte ein Anhänger der Demokraten in Alaska wählen oder einer der Republikaner in Washington DC, wenn seine Stimme nicht zählt? Der Präsidentschaftswahlkampf findet eigentlich nur in den "Battleground"-Staaten statt, in denen mal die eine, mal die andere Partei siegt.

Es gab und gibt Versuche, dieses unsinnige Prinzip abzuschaffen, das schon bei seiner Einführung als Notlösung galt. Derzeit gibt es eine Vereinbarung von mehreren Bundesstaaten, die unbeachtet des Ergebnisses in ihrem Bundesstaat alle Wahlleute-Stimmen dem Kandidaten geben wollen, der landesweit am meisten Stimmen hat. Das soll geschehen, wenn das Bündnis auf die nötigen 270 Stimmen im Wahlgremium kommt. Das Bündnis vereine inzwischen Staaten mit insgesamt 196 Stimmen, erklärte der Harvard-Geschichtsprofessor Alexander Keyssar in einem Spiegel-Interview. Er glaubt allerdings, dass sich erst etwas ändern werde, wenn die Republikaner wichtige Hochburgen wie Texas verlieren. Die Partei profitiert am meisten vom Wahlsystem.

Ändern müsste sich aber zuerst das föderalisierte Wahlrecht. Präsidentschafts-, Repräsentantenhaus- und Senatswahlen sind nationale Wahlen, dafür müsste es ein Bundeswahlrecht geben und nicht 50 unterschiedliche. In Nebraska und Maine etwa werden die Wahlleute in Distrikten bestimmt und eventuell gesplittet vergeben. In manchen Bundesstaaten, da hat Trump durchaus Recht, dürfen auch nach dem Wahltag eingegangene Briefwahlstimmen gezählt werden, in anderen nicht. Allerdings interpretierte Trump dies nach gusto. Lag er vorne, verlangte er einen Auszählungsstopp. Lag er hinter, forderte er, dass bis zur letzten Stimme ausgezählt wird. Eine landesweite Wahl braucht einheitliche Regeln, sonst verstößt sie gegen das Gleichheitsprinzip. Dass man allerdings wie Trump vor der Wahl geltende regionale Regeln nach der Wahl ändern will, vertößt gegen alle Prinzipien. Das haben zum Glück auch die Gerichte eingesehen.

Klar ist, dass sich etwas ändern muss, denn auf Angst, Glück und Anstand kann sich eine Demokratie nicht verlassen. Es sind keine gesetzlichen Normen.


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