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Im Blickfeld: Rechtsoffensive

Von Stefan Kuhn

Ruth Bader Ginsburg
Ruth Bader Ginsburg, Richterin am Obersten Gericht der USA, bei einer Veranstaltung im Hill Auditorium auf dem Campus der University of Michigan. (Foto: dpa)

Da hat er einmal nicht gelogen oder maßlos übertrieben. US-Präsident Donald Trump nannte die verstorbene Richterin am Supreme Court, Ruth Bader Ginsburg, eine „Titanin des Rechts“. Gut, normalerweise ist es nicht einmal ein Akt menschlicher Größe, wenn ein Präsident einen politischen Gegner nach dessen Ableben würdigt, sondern eine Frage des Anstands oder eine Selbstverständlichkeit, aber Trump ist kein „normaler“ Präsident. Anstand und menschliche Größe sind ihm fremd. Für ihn sind Gegner oder Kritiker „irre“, „krank“, „unbedeutend“, „überschätzt“ oder was sein überschaubarer Wortschatz sonst noch an Beleidigungen hergibt. Ruth Bader Ginsburg war nicht nur eine Gegnerin des Egomanen, sie hat auch, für ein Mitglied des Obersten Gerichtshofs ungewöhnlich, schon während Trumps Wahlkampf vor ihm gewarnt.

Man kann Trumps Würdigung aber auch als Verhöhnung sehen. Zum einen stand Ginsburg für alles, was Trump zuwider ist. Sie trat für die Gleichbehandlung aller vor dem Gesetz ein, für Frauenrechte, das Recht auf Abtreibung und gehörte zur Gruppe der linksliberalen Richterinnen und Richter im Supreme Court. Für viele war Ginsburg eine Ikone des Rechts, fast schon ein Popstar. Es gibt T-Shirts mit ihrem Konterfei, es kursiert der Spruch „You can't spell truth without Ruth“. Dass man das englische Wort für Wahrheit nicht ohne Ruth buchstabieren kann, dürfte den notorischen Lügner Trump besonders treffen. Für die Anhänger des Präsidenten war Ginsburg schon immer ein rotes Tuch.

Heuchlerisch ist Trumps Beileidsbekundung aber vor allem, weil er jetzt die Möglichkeit hat, ein weiteres konservatives Mitglied ins Oberste US-Gericht zu bringen und die Mehrheitsverhältnisse auf Jahre hinaus zu zementieren. Mit Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh hat er bereits zwei der neun Richter ersetzt. Die Richterinnen und Richter werden auf Lebenszeit ernannt, Gorsuch ist 53 und Kavanaugh 55, orientiert man sich an Ginsburg, könnten sie noch gut drei Jahrzehnte im Amt sein. Der mit Abstand älteste Richter ist derzeit der 82-jährige Stephen Breyer. Er zählt zum linksliberalen Lager. Wenn er ausscheidet, könnte sich das Kräfteverhältnis auf sieben Konservative und zwei Linksliberale verschieben. Konservativ ist allerdings ein dehnbarer Begriff, denn zwei Richter, Samuel Anthony Alito (70) und Clarence Thomas (72) stehen weit am rechten Rand. Gorsuch und Kavanaugh gelten als Trumpisten, und der Vorsitzende John Roberts (65) wird mittlerweile als moderat eingeordnet.

Dass die US-Demokraten jetzt fordern, die Nachrückerin bzw. den Nachrücker für Ginsburg erst nach dem Amtsantritt des neuen oder alten Präsidenten zu bestimmen, ist nachvollziehbar. Allerdings hätten auch sie die sich bietende Chance genutzt. Trump ist Präsident, und die Republikaner haben eine Mehrheit im Senat, der über die Obersten Richter*innen entscheidet. Sollte Trump die Wahl am 3. November verlieren und dennoch einen konservativen Kandidaten bzw. eine Kandidatin durchsetzen, hätte das einen bitteren Beigeschmack, wäre aber dennoch rechtens. Er wäre noch bis zum 20. Januar in Amt und Würden. Ein Problem ist dabei der Senat. Er konstituiert sich bereits Anfang Januar. Sollten die Republikaner ihre Mehrheit verlieren, dann könnte auch Trumps Kandidat*in scheitern. Der Präsident will deshalb noch in diesem Jahr über die Ginsburg-Nachfolge entscheiden. Dass Trump sich damit durchsetzt, ist aber nicht sicher. Zwei Monate sind eine kurze Zeit. Die Ernennung von Kavanaugh hat 77 Tage gedauert. Und nicht alle der 53 republikanischen Senatoren stehen hinter Trumps Vorstoß.

Der Supreme Court ist eine wichtige Institution im politischen System der Vereinigten Staaten. Vielleicht die wichtigste. Zumindest theoretisch, denn sie ist die oberste Instanz der „Checks an Balances“, der Kontrollmechanismen. Sie funktioniert aber nur partiell, denn sie ist einerseits extrem politisiert, und die Entscheidungen gehen weit über eine Auslegung der Verfassung hinaus. Die Entscheidung des konservativ dominierten Gerichts, George W. Bush im Jahr 2000 zum Wahlsieger der Präsidentschaftswahl zu erklären, war eine politische. Die Unregelmäßigkeiten bei der Stimmenauszählung im entscheidenden Bundesland Florida hätten in Staaten mit echter Gewaltenteilung zu einer Wahlwiederholung in dem entsprechenden Bundesstaat geführt.

Auch die Wahl der Richter*innen durch den Senat ist höchst undemokratisch. Wenn Bundesstaaten wie Kalifornien mit 40 Millionen Einwohnern und Alaska mit 740.000 je zwei Stimmen bei der Richterwahl haben, kommt das einer Farce gleich. Föderalismus ist eine gute Sache. Aber wenn eine Handvoll Kleinstaaten die Geschicke eines Landes dominieren kann, pervertiert dies ein demokratisches System. Qualifizierte Mehrheiten in beiden Kammern des US-Kongresses könnten da Abhilfe schaffen.

Abgesehen vom Wahlprozess sollte man auch die Amtszeit der Richter*innen überdenken. Der Supreme Court besteht seit 230 Jahren. Auf Lebenszeit dürfte damals etwa 70 Jahre betragen haben, die Amtszeiten waren entsprechend kürzer. In Deutschland sind Verfassungsrichter*innen zwölf Jahre im Amt, ohne Recht auf Wiederwahl. Das gewährleistet Konstanz und Erneuerung.

Selbst wenn Trump bei der Ginsburg-Nachfolge und seiner eigenen Wiederwahl scheitert. Ein Vermächtnis hätte er hinterlassen. Einen nachhaltigen Angriff auf die Judikative der USA. Neben den beiden konservativen Obersten Richtern hat er in dreieinhalb Jahren Amtszeit auch 200 neue Bundesrichter ernannt. Auf Lebenszeit.

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