Von Michael Kirner
Seit Menschengedenken regeln Pflichten und Verbote das gesellschaftliche Zusammenleben. Doch was den einen unverzichtbar erscheint, löst bei anderen Trotz und Widerstand aus - wie im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Hier hat es auch in Deutschland schon zahlreiche Demonstrationen gegeben. Unter dem Eindruck der prekären Lage wird der Ruf nach einer allgemeinen Impfpflicht aber immer lauter. Vier Beispiele, wie die Gesellschaft auf frühere Pflichten und Verbote reagiert hat:
GURTPFLICHT: Hätte sie bei ihrem tödlichen Verkehrsunfall einen Sicherheitsgurt getragen, wäre Diana möglicherweise noch am Leben. Dieses Fazit ziehen zumindest die Ermittler von Scotland Yard nach dem tragischen Unfalltod der Princess of Wales 1997 in Paris. Als der Gesetzgeber das Anlegen des Sicherheitsgurtes auf Vordersitzen Anfang 1976 in Westdeutschland (1980 im Osten) obligatorisch macht, geht zunächst ein Aufschrei der Empörung durch die Reihen bundesdeutscher Autofahrerinnen und Autofahrer. Darf der Staat mündige Bürger zum Anschnallen verpflichten?
Dass die Überlebenschancen bei einem Unfall erwiesenermaßen deutlich größer sind, beeindruckt Gurtmuffel damals herzlich wenig. Erst als das Fahren ohne Gurt seit 1984 mit einem Bußgeld von 40 D-Mark geahndet wird, kommen die Skeptiker zur Vernunft: Die Anschnall-Quote steigt von 50 auf über 90 Prozent. Auch das Festschnallen auf dem Rücksitz wird nun zur Pflicht.
VOLKSZÄHLUNG: Manche öffnen gar nicht erst die Tür, andere machen absichtlich falsche Angaben. Als im Mai 1987 rund eine halbe Million Interviewer ausschwärmen, um die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik nach Alter, Schulbildung, Religion und anderem zu befragen, ist die Angst vor einem totalitären Überwachungsstaat groß. 1970 hatte man den Zensus noch widerstandslos hingenommen, doch nun sieht sich manch einer an George Orwell's düstere Zukunftsvision "1984" erinnert.
1983 stoppt das Bundesverfassungsgericht die staatliche Datensammlung zunächst. Angesichts der ersten Massenverfassungsbeschwerde kippen die Karlsruher Richter den umstrittenen "Melderegisterabgleich" und schaffen das "Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung" - den Datenschutz. Erst im zweiten Anlauf gelingt die Aktion vier Jahre später, obwohl wieder zahlreiche Bürgerinitiativen zum Boykott aufgerufen haben.
RAUCHVERBOT: Lange schien die Welt der Raucherinnen und Raucher in Deutschland fast unangreifbar. Ob in Kneipe oder Restaurant, Büro oder Krankenhaus, ob im Flugzeug oder in der Bahn - wer dem Inhalieren giftiger Substanzen selbst nichts abgewinnen konnte, war dem blauen Dunst gleichwohl häufig schutzlos ausgeliefert. Nachdem eine freiwillige Vereinbarung mit dem Hotel- und Gaststättenverband gescheitert ist, verabschieden Bundestag und Bundesrat 2007 ein Rauchverbot in Bussen, Bahnen und Bundesbehörden, für Gaststätten sind die Länder zuständig.
Wirte befürchten Umsatzeinbußen und klagen umgehend vor dem Bundesverfassungsgericht. Dessen Urteil 2008: Zwar sei ein Rauchverbot mit dem Grundgesetz generell vereinbar, doch unter Umständen könne in Einraumkneipen weiter gequalmt werden. Es folgt ein Flickenteppich unterschiedlicher Regelungen in den einzelnen Bundesländern, von strikt bis liberal. Vergeblich ist die Debatte dennoch nicht: Die Zahl der Raucherinnen und Raucher geht - vor allem unter Jugendlichen - seit Jahren stetig zurück.
MASERN-IMPFPFLICHT: Ein skurriler Prozess sorgt 2015 in Ravensburg für Aufsehen: Hintergrund ist der erbitterte Streit um Masernviren, deren Existenz ein Biologe vom Bodensee allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz bestreitet. Stolze 100.000 Euro hatte er im Internet demjenigen versprochen, der das Gegenteil beweisen könne. Ein Medizinstudent legt entsprechende Forschungsergebnisse vor, der Impfgegner will gleichwohl nicht zahlen - bis ihn die Ravensburger Richter dazu verurteilen. Seine Berufung vor dem Oberlandesgericht hat dennoch Erfolg - aus rein formalen Gründen.
Zur selben Zeit wird in Deutschland emotional über eine Masern-Impfpflicht diskutiert. Hunderte haben sich mit der hochansteckenden, mitunter tödlich verlaufenden Krankheit infiziert, Ausbrüche gibt es in mehreren Bundesländern. Doch wie in der derzeitigen Debatte um die Corona-Impfung machen Falschinformationen und Gerüchte die Runde, viele Eltern sind verunsichert. Die Politik zieht die Notbremse: Seit März 2020 ist die Impfung für bestimmte Gruppen Pflicht - darunter Kinder beim Eintritt in Kita und Schule, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer oder medizinisches Personal. Zwei Eilanträge gegen das Gesetz weist das Bundesverfassungsgericht ab, weitere Entscheidungen stehen noch aus.
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