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Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Im Blickfeld: Quo vadis, Europa?

Von Wim van Geenen

Europa erwacht dieser Tage aus einem schönen Traum. Die regelbasierte Weltordnung, das europäische Friedensversprechen, Verhandlungen und Verträge statt roher Gewalt - all das hat sich mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine gleichsam in Luft aufgelöst. Journalisten und Politiker üben sich derzeit in zahlreichen Erklärungsversuchen, die jedoch meist nur in zielloser Empörung enden: Wie kann er nur?

Er - das ist Wladimir Putin, der offensichtliche Hauptverantwortliche für den Krieg in der Ukraine. Aus der allgemeinen Ratlosigkeit erwächst die Frage: Wer oder was ist Wladimir Putin? Ein eiskalter Stratege, das personifizierte Böse oder einfach nur ein armer Irrer? Ist er gar der Hitler des 21. Jahrhunderts? - Es deutet sich an, dass die Situation komplexer ist. Um sich ihr anzunähern macht es Sinn, Russland und insbesondere Putin zu verstehen. Bevor Sie sich nun empören: Putin zu verstehen bedeutet nicht, seine Taten gutzuheißen. Das wäre ein weiterer Schritt, der jedoch angesichts des Leids in der Ukraine nicht naheliegend ist. Wer versucht, mit den Untiefen der Weltpolitik die Bombardierung von Wohngebieten zu rechtfertigen, begibt sich auf den Holzweg.

Sinnvoller wäre es, zunächst die Mystifizierung des russischen Machtapparats zu beenden. Wer stets von „Oligarchen“ spricht, verstellt sich selbst den Blick darauf, worum es eigentlich geht: Um eine politische, wirtschaftliche und auch militärische Elite, der es, genau wie den Eliten anderer Länder, neben Segelyachten und teuren Autos vordergründig darum geht, handfeste strategische Interessen durchzusetzen. Hier sollte mit gleichen Maßstäben gemessen werden - kein Journalist würde auf die Idee kommen, westliche Wirtschaftsbosse als Oligarchen zu bezeichnen.

Ähnliches gilt für Wladimir Putin. Auch wenn der Krieg in der Ukraine schon jetzt nur noch Verlierer kennt, ist Putin keineswegs des Wahnsinns fette Beute. In seinem Handeln sind, bereits seit dem Georgien-Krieg, spätestens aber seit der Besetzung der Krim und dem russischen Eingreifen in Syrien, klare strategische Ziele und wiederkehrende Muster erkennbar. Sich selbst die Sicht zu verdunkeln, nur weil man diese Ziele für abwegig oder gar gänzlich unmöglich hält, ist politisch äußerst unklug. Die Person dahinter im Nachgang zu einem Verrückten zu erklären, grenzt an eine Trotzreaktion.

In diesem Sinne muss Europa ein weiteres Mal akzeptieren, dass es auf dem internationalen Parkett Spieler gibt, für die das europäische Wertesystem nicht die handlungsleitende Maxime ist und die sich dreist über die Regeln hinwegsetzen. Das zuzugeben fällt einigen schwer, dürfte aber angesichts der Leichtigkeit, mit der die Europäer nun neue, ebenfalls autokratisch regierende Energielieferanten suchen, eigentlich kein Problem mehr sein. Wie man jenseits der Akzeptanz mit derartigen Spielern umgeht, steht auf einem anderen Blatt. Betroffenheit und moralisch begründete Empörung werden Putin jedoch nur schwer beeindrucken können.

Grundsätzlich sollten sich die Europäer einige grundlegende Spielregeln jenes internationalen Systems vergegenwärtigen, das sie selbst maßgeblich mit hervorgebracht haben. Die Souveränität der Nationalstaaten als Grundlage der internationalen Ordnung führt unweigerlich dazu, dass alle internationalen Regeln nur so lange gelten, wie sich die beteiligten Akteure auch daran halten. Es gibt de facto keinen Akteur über den Nationalstaaten, der im Konfliktfall eine letztgültige Entscheidung treffen und dann auch durchsetzen könnte. Internationale Politik ist Anarchie, die zwar durch verschiedene Integrationsbemühungen und die Verrechtlichung einiger Angelegenheiten zeitweise geordnet werden kann, im Falle eines Konflikts jedoch immer wieder in den anarchischen Ausgangszustand zurückzufallen droht.

Obwohl der souveräne Nationalstaat eine europäische Idee ist, scheint es, als kämen die Europäer mit der Souveränität einiger anderer nur schwer zurecht. Zu dieser Souveränität gehört auch das Recht, sich von den großen Nachbarn bedroht zu fühlen oder sich den kleineren Nachbarn einverleiben zu wollen. Zwar ist die NATO-Osterweiterung gewiss weder der einzige Grund noch die Rechtfertigung für den russischen Angriffskrieg. Dennoch weiß jeder Bewohner eines Mehrparteienhauses, dass man die Sorgen der Nachbarn ernst nehmen sollte - auch dann, wenn diese einen anderen Lebensstil pflegen.

Nun, da der Krieg da ist, steckt Europa in der Zwickmühle: Der Weg nach vorne führt in den Atomkrieg, der Weg zurück zeigt Putin, dass ein Angriffskrieg in Europa ohne Konsequenzen bleibt. Zwar reagiert der Westen geeint, es wird sich aber noch zeigen, ob mittelfristige Wirtschaftssanktionen eine kurzfristige Aggression tatsächlich stoppen können. In vielen anderen „Schurkenstaaten“ leben kleptomanische Eliten bekanntlich trotz anhaltender Sanktionen weiterhin in Saus und Braus. Wenig helfen wird es, hunderte Milliarden Euro für konventionelle Waffen auszugeben, die erst in Jahren verfügbar sind und gegen russische Atomwaffen ohnehin nichts ausrichten können. Und noch viel unsinniger ist der von einigen Seiten betriebene Kultur- und Forschungsboykott gegen Personen, die mit Putin nichts zu tun haben. Wenn schon auf politischer Ebene nichts mehr geht, sollten gerade die zivilgesellschaftlichen Kanäle nach Russland offen bleiben. Das sind die Europäer ihren eigenen Werten schuldig.

Der Krieg in der Ukraine ist real, er ist bitter und er kennt keine Gewinner. Letztendlich geht es aber um die Sicherheitsordnung in Europa. Eine friedliche Lösung ist derzeit nicht absehbar. Klar ist nur, dass die schlechteste Verhandlungslösung besser ist, als den Krieg mit all seinen Folgen weiterzuführen. Quo vadis, Europa?



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