Von Stefan Kuhn
Man kann Mitleid haben oder Schadenfreude empfinden. Die CDU durchlebt derzeit wohl die größte Krise ihrer Geschichte. Bei den Bundestagswahlen im September fuhr die Union das schlechteste Ergebnis seit der Parteigründung ein, vor wenigen Monaten noch wähnte man sich als letzte Volkspartei, und jetzt dümpeln CDU und CSU in den Umfragen an der 20-Prozent-Marke.
Das klingt nicht neu. Vor vier Jahren begann bei der SPD, damals die zweite deutsche Volkspartei, eine ähnliche Krise. Diese hat sie zwar nicht wie Phönix aus der Asche überwunden, aber sie hat sich gefangen und ist als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgegangen. Profitiert haben haben die Sozialdemokraten dabei von den Fehlern ihrer Konkurrenten, aber auch deshalb, weil sie aus den eigenen Fehlern gelernt haben. Selten ist die SPD bei Bundestagswahlen so geschlossen gewesen, wie dieses Jahr. Das kann man von der CDU nicht sagen. Seit dem Rückzug von Angela Merkel vom Parteivorsitz im Dezember 2018 gibt es Streit um die Führung. Die damalige Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer, Merkels Wunschkandidatin, setzte sich gegen Friedrich Merz und Jens Spahn durch. Sie agierte glücklos, und trat zurück als die Thüringer Filiale der Partei zusammen mit der rechtspopulistischen AfD einen FDP-Politiker zum Ministerpräsidenten wählte. Es wurde deutlich, dass die Vorsitzende ihre Partei nicht unter Kontrolle hatte. Erst ein Machtwort Angela Merkels beendete diese Farce.
Um Kramp-Karrenbauers Nachfolge wurde auch heftig gestritten. Anfang des Jahres setzte sich der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet gegen Friedrich Merz und Norbert Röttgen durch. Laschet agierte noch glückloser. Als Kanzlerkandidat der Unionsparteien bekam er mehr Gegenwind aus den eigenen Reihen zu spüren als aus der Richtung des politischen Gegners. Vor allem Bayerns Ministerpräsident Markus Söder von der Schwesterpartei CSU machte immer wieder deutlich, dass er sich für den besseren Kandidaten hält. Laschet zog die Konsequenzen aus der Niederlage und kündigte seinen Rücktritt an.
Bei der SPD war das vier Jahre zuvor ähnlich. Der damalige Kanzlerkandidat und Parteichef Martin Schulz, er war nicht einmal ein Jahr im Amt, zog sich im Februar 2018 zurück, seine Nachfolgerin wurde Andrea Nahles, die gut ein Jahr später nach einem desaströsen Ergebnis der SPD bei Europawahlen und starker innerparteilicher Kritik an ihrer Führung aufgab. Daraufhin entschloss sich die Partei zu einer Rundumerneuerung. Die Sozialdemokraten führten eine Doppelspitze ein und ließen die Mitglieder über die Parteiführung abstimmen.
Seit Dezember 2019 stehen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans an der Parteispitze. Die beiden setzten sich gegen Olaf Scholz und Klara Geywitz durch. Esken war damals eine Hinterbänklerin aus Baden-Württemberg, Walter-Borjans hatte immerhin schon einmal das Amt des nordrhein-westfälischen Finanzministers inne. Die beiden wurden gewählt, weil sich die Parteibasis, vor allem die Jungsozialisten, nach einem Linksruck sehnte.
Ähnliches planen die Christdemokraten jetzt. Auch deren Jugendorganisation, die Junge Union, macht sich für eine Mitgliederentscheidung stark. In gewisser Weise ist das verständlich, denn wenn es nach der Parteibasis gegangen wäre, wären weder Kramp-Karrenbauer noch Laschet ins Amt gekommen, sondern Friedrich Merz. Er steht für die christdemokratischen Sehnsüchte, eine Rückbesinnung zum Konservativen. Dass ein Kanzlerkandidat Merz bei den Bundestagswahlen besser abgeschnitten hätte, darf man bezweifeln. Für Sozialdemokraten und Grüne wäre er der ideale Gegner gewesen. Jetzt im dritten Anlauf könnte Merz Parteichef werden, aber eine Erneuerung wäre das nicht. Das wissen die Parteipolitiker der Merkel-Ära nur zu gut. Viele warnen vor einer Mitgliederbefragung.
Als die Sozialdemokraten Esken und Walter-Borjans zu Parteivorsitzenden machten, knallten in der CDU-Zentrale die Korken. Im Kanzleramt konnte man sich weder die eine noch den anderen vorstellen. Vermutlich waren sich auch die SPD-Chefs im Klaren darüber, dass sie chancenlos waren. Sie entschieden sich mehr als ein Jahr vor den Bundestagswahlen, dem Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz den Vortritt zu lassen. Esken und Walter-Borjans hatten deshalb großen Anteil am Wahlsieg. Sie sorgten auch dafür, dass die Partei hinter dem Kandidaten stand.
Von Friedrich Merz kann man das kaum erwarten. Es ist kaum vorstellbar, dass er einem geeigneteren Kandidaten den Vortritt lässt. Bei der SPD ist das schon fast Praxis. 1961 war Erich Ollenhauer Parteichef und Willy Brandt Kanzlerkandidat. 1976 war Brandt Parteichef und Helmut Schmidt Kanzlerkandidat. Unter Brandt traten auch Hans-Jochen Vogel und Johannes Rau bei den Bundestagswahlen 1983 und 1987 als Kanzlerkandidaten an. Gerhard Schröder wurde 1998 Kanzler, sein Parteichef hieß Oskar Lafontaine. 2005 war Schröder Kandidat und Franz Müntefering Parteichef. 2009, während Münteferings zweiter Amtszeit, trat Frank-Walter Steinmeier als Spitzenkandidat an. Unter der Ägide Sigmar Gabriel war es 2013 Peer Steinbrück. Bei den Unionsparteien war bis auf zwei Ausnahmen immer der/die Parteivorsitzende auch Kanzlerkandidat*in. Nur 1980 und 2002 traten mit Franz-Josef Strauß und Edmund Stoiber die Vorsitzenden der Schwesterpartei CSU an.
Für die CDU ist es ein Risiko, ihren Vorsitzenden in einer Mitgliederabstimmung zu küren. Völliges Neuland ist dies allerdings nicht. 2004 entschieden sich die Mitglieder der CDU Baden-Württemberg in einer Befragung für Günther Oettinger als Parteichef und damit als Ministerpräsident. Seine Konkurrentin Annette Schavan, die Favoritin des damaligen Parteichefs Erwin Teufel, unterlag mit rund 40 Prozent der Stimmen.
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